Meine Mutter war eine russische Jüdin, mein Vater ein protestantischer Deutscher. Sarah Ioffe und Willi Riewe. Das Licht der Welt erblickte ich am 1. Juni 1937 in der russischen Stadt Pawlow bei Nowgorod, zwischen Moskau und St. Petersburg.
Mein Vater war 1930 mit einem Arbeitsvisum in die Sowjetunion eingereist. Zwei Jahre darauf lernten sich meine Eltern kennen, wiederum zwei Jahre später heirateten sie. Sie waren glücklich, wie mir meine Mutter später erzählte. Aber dann schlug das Schicksal zu. Zwei Monate nach meiner Geburt wurde mein Vater vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und verschwand spurlos.
Warum geriet er in die Fänge der Häscher Stalins? Wohin hatten sie ihn verschleppt? Hatten sie ihn umgebracht, oder lebte er noch? Auf diese Fragen bekam meine Mutter keine Antwort. Wir sahen ihn nie wieder.
GROSSELTERN Als ich gehen und sprechen lernte, erzählte mir meine Mutter oft von meinem Vater und warnte mich: Lerne nicht Deutsch, sprich nicht Deutsch! Das war nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 viel zu gefährlich. Patriotismus war angesagt.
Meine Mutter hatte verständlicherweise Angst. Verschiedene Male wechselten wir die Wohnorte. Einen Großteil meiner Kindheit habe ich bei meinen russischen Großeltern verbracht, denn meine Mutter musste arbeiten. Oft fielen merkwürdige Dinge aus dem Himmel – so nahm ich es als Kind wahr: deutsche Bomben.
Sich verstehen zu wollen, ist typisch für den lockeren Kölner Lebensstil – das mag ich.
Meine Großeltern brachten mir schon früh das Lesen der russischen Sprache bei. Russisch war und ist meine Muttersprache und bis heute meine Heimat. Und doch sehnte ich mich nach meinem nichtjüdischen, nichtrussischen Vater. Viele Jahre habe ich vergebens nach ihm gesucht. Als ich 52 Jahre alt war, 1992, erfuhr ich über das Rote Kreuz, dass er von 1940 bis 1945 in russischer Gefangenschaft saß und 1962 in Berlin gestorben ist. Einem deutschen Mitgefangenen hatte er drei Briefe an mich anvertraut, die dieser mir nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion übergab. Ein großer Trost für mich. Auch er hatte uns also finden wollen.
1942, als ich fünf Jahre alt war, heiratete meine Mutter Evriviad Ionkis, einen Juden aus Odessa. Nach diversen Umzügen landeten wir zu dritt in Odessa. Dort ging ich zur Schule. 1948 adoptierte mich mein Stiefvater, deshalb ist mein Nachname heute Ionkis.
Nach meinem Schulabschluss studierte ich in Moskau Literaturwissenschaft, errang zwei Doktortitel und wurde Professorin. Fünf Jahre lehrte ich an der Universität im sibirischen Komsomolsk und 25 Jahre an der Universität in Chisinau in Moldawien, in der Nähe des Schwarzen Meeres. In diesen Jahren habe ich viele Bücher geschrieben und viele Essays in internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert.
NIBELUNGEN 1994 übersiedelten mein Mann, Isaak Olschanskij, und ich als Kontingentflüchtlinge nach Köln. Wenn wir gefragt wurden, warum wir ausgerechnet nach Deutschland wollten, in ein Land, von dem so viel Unheil ausgegangen war, sagte Isaak immer: Greta wollte in das Land ihres Vaters.
In Köln wurden wir gut aufgenommen. Rasch bildete sich ein russisch-deutscher Freundeskreis. Ich versuchte, meine mageren Deutschkenntnisse aufzubessern. Lesen war nicht das Problem, als ich noch nicht sehbehindert war so wie heute.
Meine vielen Vorträge in Köln und anderen Städten zu literaturwissenschaftlichen und kulturellen Themen von den Nibelungen bis zur deutschen Romantik hielt ich gewöhnlich auf Russisch vor einem russischsprachigen Publikum.
Die deutsche Sprache zu verstehen und zu sprechen, fiel mir schon schwerer. Aber verständigt haben wir uns immer. Sich verstehen zu wollen, ist typisch für den lockeren Lebensstil in Köln, dieser unaristokratischen Bürgerstadt – das mag ich. Oft besuchte ich die Kultureinrichtungen, freute mich an den Ausstellungen in Museen und Galerien.
Mein Mann baute eine Bibliothek in der Synagogen-Gemeinde Köln auf, die nach seinem Tod 2019 nach ihm benannt wurde.
In dieser deutschen Umgebung – und sicherlich auch erklärbar aus meiner Biografie – wandte ich mich einem neuen wissenschaftlichen Thema zu: »Juden und Deutsche im Kontext von Geschichte und Kultur«. Präziser gesagt: »Jüdische Deutsche, deutsche Juden und nichtjüdische Deutsche im Kontext von Geschichte und Kultur«.
Während mein Mann eine Bibliothek in der Synagogen-Gemeinde Köln aufbaute, die nach seinem Tod 2019 nach ihm benannt wurde, schrieb ich viele Essays aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht zum Thema. Diese wurden auf Russisch in einem Verlag in St. Petersburg publiziert.
TRAUM Mein Traum war es, ausgewählte Essays im bundesweiten Jubiläumsjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« auch einem deutschen Publikum zugänglich zu machen: Studierenden, historisch Interessierten, wachen Journalisten, allen, die sich ernsthaft mit der deutschen Vergangenheit, nicht nur mit dem Holocaust, beschäftigen, und das sind viele.
Es ging mir darum, anhand allseits bekannter Persönlichkeiten vom 16. Jahrhundert bis heute die wechselvollen Beziehungen zwischen Juden und Deutschen zu beleuchten – vom religiös basierten Antijudaismus bis zum viel späteren, rassisch begründeten Antisemitismus. Als Beispiele nenne ich nur den Reformator Martin Luther, den Humanisten Goethe, den Dramatiker Lessing, den kritisch suchenden Literaten Heinrich Heine bis hin zu Günter Grass, Heinrich Böll, Bernhard Schlink oder Gunter Demnig, den ich viele Male getroffen habe und der mit seinen Stolpersteinen europaweit Zeichen gesetzt hat.
Meine Kernfrage war dabei: Wie können jüdische Deutsche und deutsche Juden und nichtjüdische Deutsche nach dem Holocaust wieder friedlich, »normal« zusammenleben? Dazu kann ich nur sagen: Erinnert euch an die gegenseitige kulturelle Befruchtung! Denkt beispielsweise an Moses Mendelssohn, an Sigmund Freud, an Albert Einstein, denkt an Rachel Salamander, die Preisträgerin des Heine-Preises der Landeshauptstadt Düsseldorf 2020.
Nehmt das Leben wie in Köln: leben und leben lassen, egal ob ihr jüdisch, katholisch, protestantisch, buddhistisch oder muslimisch seid, solange ihr nicht fundamentalistisch denkt und agiert.
TEAM Die praktische Umsetzung meines Traums einer deutschsprachigen Ausgabe ausgewählter Essays und Skizzen gelang mit der Hilfe eines kleinen Produktionsteams. Als Autorin bekam ich Unterstützung von Isabella Khoussid, Mitglied der Synagogen-Gemeinde und Brückenbauerin zwischen der russischen und der deutschen Welt, sowie Kathinka Dittrich van Weringh, der ehemaligen Kulturdezernentin der Stadt Köln.
Kathinka suchte und fand in Christine Rädisch eine dem Thema zugewandte professionelle Übersetzerin sowie einen Verlag und machte sich an die Aktualisierung und Redigierung der Texte.
Unterstützt wurde sie von ihrem niederländischen Mann, Professor der Kriminologie Koos van Weringh, dessen Eltern während der Besatzung der Niederlande durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg vielen Juden und anderen im Dritten Reich Unerwünschten bei eigenem Risiko das Leben gerettet hatten.
BUNDESPRÄSIDENT Unser Team arbeitete ehrenamtlich. Umso mehr freue ich mich über prominenten Zuspruch: So hat etwa Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einem anerkennenden Brief Anfang April wissen lassen, wie sehr er sich über »den bedeutenden jüdischen Beitrag zu unserer Geschichte und Kultur« gefreut hat.
Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker hat uns für unseren Einsatz für die deutsch-jüdische Verständigung sehr herzlich gedankt und uns ihre Unterstützung zugesagt. Und einschlägige Kölner Institutionen haben öffentlich unser Projekt befürwortet, darunter das NS-Dokumentationszentrum, die Kölnische Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und die Bibliothek Germania Judaica. Sie alle planen Veranstaltungen zu dem Buch, sobald Corona das möglich macht. Das ist doch wunderbar.
Wir jüdische Deutsche und nichtjüdische Deutsche haben es gemeinsam geschafft!
Aufgezeichnet von Annette Kanis