Mit seinem Buch Simon Wiesenthal. Die Biographie kommt Tom Segev der Persönlichkeit Wiesenthals »so nahe wie kein anderer zuvor«. Mit diesen Worten stellte Rachel Salamander den Autor bei der Präsentation seines jüngsten Werkes im Literaturhaus vor. In Zusammenarbeit mit diesem und B’nai B’rith hatten die Literaturhandlung und der Förderkreis Literatur zum Judentum dazu ein- geladen. »Tom Segev ist hauptsächlich als Chronist seines Landes bekannt« sagte Salamander.
Der Historiker und Journalist wurde 1945 in Jerusalem geboren. Seine Eltern konnten 1935 aus Deutschland nach Palästina fliehen. Sein Vater kam im Unabhängigkeitskrieg Israels 1948 ums Leben.
Zum ersten Mal hat Segev nun eine Biografie vorgelegt. Es ist die aus Originalquellen erarbeitete Lebensgeschichte, für die Tom Segev zahlreiche Briefe, Geheimdienstdossiers, Zeitungen und Karteikarten über mehrere Jahre lang in Wiesenthals kleiner Mietwohnung in Wien ge- sichtet hat. Das Buch stellt Wiesenthal auf eine höchst lebendige Weise als einen überaus mutigen Mann vor. Als Simon Wiesenthal im Alter von 97 Jahren in Wien starb, betrauerte die Welt einen unermüdlichen Kämpfer gegen die Verbrecher des NS-Regimes. Vom Tag seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Mauthausen machte es sich Simon Wiesenthal zur Aufgabe, die Verbrecher vor Gericht zu bringen. An diesem Abend erfuhren die Besucher im Literaturhaus noch weit mehr über diese Jahrhundertpersönlichkeit.
Tom Segev und Rachel Salamander stellten Wiesenthal in einem Gespräch vor, aus dem das Publikum einen Eindruck von dem bekommen konnte, »worum es auf den 577 Seiten geht«, wie die Gastgeberin sagte. »Das Buch ist nicht nur eine Biografie, sondern zugleich ein zeitgeschichtliches Dokument. Simon Wiesenthal ist 97 Jahre alt geworden. In einhundert Jahren kann sehr viel passieren ...«.
Auto und Internet Segev illustrierte die Spannweite an einem Beispiel: »Wiesenthal konnte sich noch an das erste Auto erinnern, das in seiner Heimatstadt gefahren ist – und er konnte Position gegen Neonazis im Internet beziehen.« So häufig er auch als »Nazijäger« bezeichnet wurde, seine Persönlichkeit umfasst ein weit größeres Spektrum. »Er verstand sich immer als österreichischer Patriot«, betonte Segev.
»Er war ein Einzelkämpfer, konservativ sein Leben lang. Aber er hat an das liberale Rechtssystem geglaubt.« 20 Tage nach seiner Befreiung aus Mauthausen hat Wiesenthal eine Liste mit 150 Namen von NS-Schergen zusammengestellt. Zudem ging er davon aus, dass Amerikaner ebenso wie Deutsche und Österreicher die Verbrecher vor Gericht stellen würden. »Dann«, so Segev, »musste er feststellen, dass er alleine war. Österreich hat alles getan, den Nazis nicht den Prozess zu machen.
Die Deutschen auch.« Doch Wiesenthal machte weiter. Er ging in DP-Lager und fragte die Überlebenden. Die Listen ergaben die Grundlage für sein Archiv. Später sollten sie helfen, Zeugen in Prozessen gegen NS-Verbrecher zu finden. Segev geht in seinem Buch auch auf die immer wieder umstrittene Zusammenarbeit von Mossad und Wiesenthal ein. Er kann diese belegen. Bereits 1953 hatte Wiesenthal – wie ein Brief in seinen Akten belegt – dem israelischen Botschafter in Wien mitgeteilt, dass sich Eichmann in Argentinien befindet.
Doch Segev hat sich nicht nur mit der unmittelbaren Auseinandersetzung Wiesenthals mit der Schoa beschäftigt. Seine Differenzen mit dem österreichischen Kanzler Kreisky sind bekannt. Seine Einschätzung des späteren UNO-Generalsekretärs Kurt Waldheim hat Wiesenthal viel Kritik und vielleicht, wie Segev sagte, sogar um den Friedensnobelpreis gebracht. Tom Segev betonte, dass es Wiesenthal nie um Rache gegangen sei, vielmehr um Aufklärung und Gerechtigkeit. In diesem Kampf war er ein einsamer Mann.
Mosaik Aber immer wieder bekam er auch Zuspruch und Ermunterung. So fand Tom Segev bei seinen Recherchen einen Brief von Liz Taylor: »Lieber Simon, bleib gesund, wir brauchen dich«, hatte ihm die Schauspielerin geschrieben.
Noch ein weiterer Mosaikstein zur Persönlichkeit Wiesenthals wurde an diesem Abend bekannt. Der heute in München lebende Zeitzeuge Alexander Schwarz berichtete von seiner Begegnung mit Wiesenthal. Er war im KZ Lemberg, wohin auch Wiesenthal gebracht wurde. Zunächst mussten die Häftlinge Baracken bauen, später kam die Kolonne ins »Tal des Todes«. Der damals 37- jährige Wiesenthal unterstützte die Jugendlichen.
Von Beruf Architekt, hatte er das notwendige Wissen, das der Kolonne bei den Arbeiten zum Überleben half. »Er war autoritär, hat uns mit Rat und Tat in jeder Situation geholfen«, erinnerte sich Schwarz. »Wiesenthal war ein ganz normaler Häftling – ich verdanke ihm auch mein Leben.«
Tom Segev: Simon Wiesenthal. Die Biographie. Siedler Verlag, München 2010, 576 S., 29.95 €