Jubiläum

Name mit Doppelsinn

Vorstandsmitglieder der Stiftung Foto: Uwe Steinert

Das Frühstück im Grünen muss spontan ins Haus verlegt werden: Ausgerechnet an diesem Sonntagvormittag regnet es Bindfäden. Doch das tut der Stimmung unter den Frauen keinen Abbruch – sie sind gespannt und voller Freude. Denn an diesem Tag stellen die 15 Stipendiatinnen der Stiftung »Zurückgeben« des Jahres 2019 ihre Projekte vor.

Gleichzeitig wird – ohne viel Aufhebens – das 25-jährige Bestehen der Stiftung gefeiert. Wegen des Regens stehen Teller, Becher, Kaffee und Brötchen nun nicht wie geplant auf einem Gartentisch auf der Wiese, sondern auf jenem runden Tisch, an dem Anfang der 90er-Jahre die Idee zur Stiftung in der Villa in Lichterfelde aufkam.

Damals saß Hilde Schramm, Grünen-Politikerin, frühere Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses, Professorin für Erziehungswissenschaften und Tochter von Albert Speer, Hitlers Architekt und Rüstungsminister, hier mit Freundinnen – darunter auch einige Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Auf den Stiftungsnamen kam damals die Berliner Kinderärztin und Familientherapeutin Marguerite Marcus, die von der ersten Sekunde an dabei war.

PIANISTIN Heute hält sich Hilde Schramm eher im Hintergrund. Für die 83-Jährige ist es eine Selbstverständlichkeit, ihre zwei Zimmer in der Villa für die Treffen zur Verfügung zu stellen. »Ich habe extra aufgeräumt und die Möbel umgestellt, sodass alle Platz finden«, sagt sie schlicht. Das Haus hat sie vor Jahrzehnten gemeinsam mit Freunden gekauft; in ihm lebt sie immer noch in einer Wohngemeinschaft. Vor einigen Jahren haben sich die Bewohner gemeinsam dafür entschieden, Flüchtlinge aufzunehmen. Sie sind an diesem Sonntag ebenfalls beim Stiftungstreffen dabei.

Um den runden Tisch herum ist es laut. Die etwa 40 Frauen, die sich in der Stiftung oder deren Freundeskreis engagieren, unterhalten sich angeregt mit den derzeitigen oder ehemaligen Stipendiatinnen. Einige von ihnen sind extra aus München oder Düsseldorf angereist, andere leben in Berlin.

Da ist zum Beispiel die Pianistin Elzbieta Sternlicht. Gerade holt sie eine CD aus ihrer Tasche und drückt sie Sharon Adler in die Hand. Auch ihr Programm mit bisher unveröffentlichten Klavierstücken von Fanny Hensel-Mendelssohn wurde gefördert. »Das ist ja wunderbar«, bedankt sich Sharon Adler, Gründerin und Herausgeberin des Frauen-Online-Magazins und Informationsportals AVIVA-Berlin und seit sechs Jahren Vorstandsvorsitzende von »Zurückgeben«.

PARKBÄNKE Eine andere ehemalige Stipendiatin, die Künstlerin Marion Kahnemann, berichtet von den Schwierigkeiten mit der Verwaltung in Dresden, die immer wieder infrage stelle, wer die Aufsicht über die Parkbänke mit der provozierenden Aufschrift »Nicht für Juden« habe, die die Künstlerin im Park hat aufstellen lassen. »Ich bin oft vor Ort und möchte mit den Passanten ins Gespräch kommen«, sagt Marion Kahnemann.

Die Stiftung fördert Künstlerinnen unabhängig von ihrem Alter.

»Ich war schon ganz aufgeregt«, bemerkt Ruth Zeifert aus München, die soeben ihr Projekt vorgestellt hat, das nun gefördert wird. Sie ist Soziologin und gerade dabei, ein Bildungsprogramm zur Antisemitismusbekämpfung mit dem Arbeitstitel »Jüdische Verteidigung. Em­powerment der nicht-jüdischen Bevölkerung Deutschlands« zu entwickeln. Die 47-Jährige hofft, Workshops an Schulen, bei Gewerkschaften und anderen Einrichtungen anbieten zu können. Neben der finanziellen Unterstützung sei vor allem das »Sichtbarwerden« für sie wichtig – und die moralische Unterstützung.

BUCHPROJEKT Das findet auch Clara Henssen, die ihr Buchprojekt präsentiert hat. Das Konzept steht: In dem Roman Graubart greift sie Teile ihrer eigenen jüdischen Familiengeschichte auf und kombiniert diese mit einem fiktiven David Graubart, der nach der Schoa mit einer Behinderung geboren wurde.

Die Stiftung fördere eben auch junge Künstlerinnen, die noch gar nicht etabliert seien, und zwar unabhängig von ihrem Alter, sagt die 31-Jährige anerkennend. Mit dem Geld will sie zu den Gedenkstätten reisen, um die Deportationsroute ihrer Familie nachzuverfolgen und die Erlebnisse anschließend literarisch zu verarbeiten.

Die Stiftung ist »wie für mich gemacht«, findet Marina Rosemann aus München. Sie ist Übersetzerin, Komponistin, Philologin und Gründerin des Musiktheaters »Tutitam«. Die 57-Jährige hat bereits das Musikstück »LEO-Opera Buffa« zu einem Hörspiel verarbeitet. Vor zwei Jahren komponierte sie die Oper auf Grundlage des Romans Stadt ohne Juden von Hugo Bettauer; demnächst führt sie sie im »Tutitam« auf – das nun auch unterstützt wird.

VIELFALT Drei Frauen, drei unterschiedliche Projekte. »Das zeigt eben auch die Vielfalt der Stiftung«, sagt Sharon Adler. Aber vor allem seien es eher unbekannte Frauen, die am Anfang ihrer Arbeit stehen, »für die das Geld eine erste Anerkennung und Ermutigung sein soll«, erklärt Hilde Schramm.

»Die kleine Stiftung ist die einzige, die explizit in Deutschland lebende Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens fördert«, ergänzt Judith Kessler, die ebenfalls Vorstandsmitglied ist. Dem Stiftungsbeirat gehören jüdische und nichtjüdische Frauen an, in der Jury sind nur Jüdinnen.

Die Finanzierung ist eine erste Anerkennung und Ermutigung für die Arbeit der jüdischen Frauen.

Mittlerweile sitzen alle mit einer Tasse Kaffee und einem gefüllten Teller an einem langen Tisch nebenan. Bücherregale stehen auch hier an den Wänden. Nach der Einführung und den Vorträgen gehen die Frauen nun zum entspannteren Teil des Vormittags bei Snacks und Erfrischungen über. Dann wird zum Vorstandsbericht gerufen.

Ein Thema ist dabei auch, dass die Spenden rapide zurückgehen und dringend etwas geschehen müsste, damit sich das ändert. Bisher gab es etwa 15.000 Euro pro Jahr an finanziellen Zuwendungen. Das Geld, das Hilde Schramm und die weiteren Mitgründer 1994 in den Topf geworfen haben, ist längst aufgebraucht.

FAMILIENBESITZ Hilde Schramm wollte vor 30 Jahren nicht länger die Kunstwerke aus dem Erbe ihres Vaters besitzen, deren frühere Besitzerschaft unklar war. Schließlich hätten es auch Juden sein können, die unter dem Nazi-Regime alles verloren hatten, meint sie. Dieser Gedanke behagte ihr nicht. Zum Familienbesitz der Speers gehörte damals eine kleine Gemäldesammlung von Romantikern, darunter einige wertvolle Werke. Albert Speer hatte sie in den 30er-Jahren »billig« auf dem Kunstmarkt erworben. Der Verkaufserlös bildete den Grundstock für die Stiftung »Zurückgeben«.

Die Stifterinnen wollen damit auf ein Unrecht aufmerksam machen, das noch immer verdrängt wird: den materiellen Vorteil, den viele Deutsche aus der Entrechtung, Vertreibung und Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus erzielten. Dieser »Vernichtungsgewinn« werde heute noch an die Nachkommen vererbt. Er besteht aus »arisierten« Häusern, Wohnungen, Betrieben, Geschäften, aber auch billig erworbenen Kunstgegenständen, Antiquitäten, Möbeln, Schmuck und Tafelsilber.

»Wie kamen die Eltern, Großeltern und andere Verwandte der nach dem Krieg geborenen Generationen zwischen 1933 und 1945 an ihr Grundstück, ihr Haus oder an ihre Wohnung, an ihre Möbel und Wertsachen, ihre Kunstwerke? Wem gehörten diese Dinge vorher?« Diese Fragen stellte sich damals Hilde Schramm. Sie ist sich sicher, dass ihr Vater die Bilder mit Geld gekauft hat, das er im NS-Regime verdiente, und geht davon aus, dass es ihm egal war, ob sie einen jüdischen Vorbesitzer hatten. »Ich hatte das Gefühl, dass ich selbst profitiere, wenn ich die Bilder behalte – und die Reihe so fortsetze.«

Noch Mitte der 90er-Jahre, als die Stiftung gegründetet wurde, war das Thema ein blinder Fleck.

Über diese materielle Vorteilsnahme aus dem Leid der jüdischen Bevölkerung wurde in der deutschen Gesellschaft und in den meisten Familien über Jahrzehnte geschwiegen. »So war es auch bei mir zu Hause«, erzählt Schramm. »Noch Mitte der 90er-Jahre, als wir die Stiftung gründeten, war das Thema ein blinder Fleck.«

STARTKAPITAL 160.000 D-Mark steuerte Hilde Schramm zum Startkapital für die Stiftung bei, jeweils 30.000 D-Mark drei weitere Frauen. Über die Jahre hat die Grünen-Politikerin durch Lesungen und Bucherlöse noch einmal eine ähnliche Summe in die Stiftung gesteckt, ebenso wie das Preisgeld des Obermayer Award, den sie im Januar im Berliner Abgeordnetenhaus entgegennahm.

Insgesamt konnte die Stiftung bislang Projekte mit einer halben Million Euro fördern, mehr als 120 Projekte wurden seit 1996 unterstützt. Jährlich bewerben sich etwa 80 Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen. Der Name »Zurückgeben« versteht sich in doppeltem Sinne: Zum einen geht es darum, nachfolgenden jüdischen Generationen etwas zurückzugeben. »Zum anderen ist er durchaus provokativ gemeint: Deutsche Familien sollten sich überlegen, ob sie Dinge besitzen, die aus jüdischem Besitz stammen«, sagt Sharon Adler.

In den seltensten Fällen könne man die Antiquitäten oder Kunstwerke wirklich zurückgeben, weil die Menschen nicht mehr lebten oder die Nachfahren unbekannt seien. Aber eine Geste an die jüdische Gemeinschaft heute sei immer möglich, zum Beispiel auch in Form einer Spende an die Stiftung, meint Adler.

Deutsche Familien sollten sich überlegen, ob sie Dinge besitzen, die aus jüdischem Besitz stammen.

Doch es gebe auch ein psychologisches Problem: »Bei einer Spende für die Stiftung bin ich – anders als bei einer Spende an den Tierschutzverein – nicht in der Rolle des großzügigen Wohltäters – sondern ich zahle etwas zurück, was Deutsche sich genommen haben«, sagt Sharon Adler.

FRIST Am Nachmittag hat sich der Himmel aufgeklart. Die Vorstandsmitglieder können für ein kurzes Gespräch doch noch in den Garten gehen. Etwas später nehmen Hilde Schramm und Sharon Adler das handgeschriebene Schild »Stiftung Zurückgeben«, das sie an der Gartenpforte angebracht hatten, ab. Sie sehen sehr zufrieden aus.

Nun freuen sie sich alle auf die neuen Bewerbungen bis zum 17. September, denn aktuell läuft die Ausschreibung für das Jahr 2020, von denen einige dann in einem Jahr vorgestellt werden – beim nächsten Frühstück im Grünen.

www.stiftung-zurueckgeben.de

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