Manche Dinge lernt man erst spät im Leben. Ein wenig hilflos steht Valery Shulman, ein weißhaariger Mann Anfang 80, im Betraum, hält seinen linken Arm ausgestreckt und lässt sich Tefillin legen. Es ist das erste Mal in seinem Leben.
Chanoch Grünwald, ein Mann Anfang 70, zeigt ihm, wie das geht und welche Segenssprüche man dabei sagt. Grünwald ist Israeli und der Maschgiach im Bad Kissingener »Eden-Park«, Deutschlands einzigem koscheren Hotel. Der 71-jährige Israeli passt auf, dass alles koscher ist, was ins Haus, in die Küche und letztlich auf die Teller der Gäste kommt. Er gibt die Bestellungen auf, nimmt die Lieferungen entgegen, schaut hin und wieder dem Koch über die Schulter. Und er hilft dabei, dass Gäste wie Valery Shulman die Traditionen ihrer Väter und Großväter wiederentdecken.
ZWST Shulman stammt aus der ehemaligen Sowjetunion und gehört zu einer Gruppe, die an einem Erholungsprogramm der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) teilnimmt. Als in den 90er-Jahren mehr als 100.000 russischsprachige Juden nach Deutschland kamen, war man sich bei der ZWST rasch einig, dass man etwas tun muss, um ihnen das Judentum näherzubringen. So kaufte man ein heruntergekommenes früheres Kurhaus im unterfränkischen Bad Kissingen und baute es zu einem koscheren Hotel um. Seit mehr als 20 Jahren finden dort Gruppenaufenthalte statt mit einem Kursprogramm vor allem für Ältere, finanziert von der ZWST.
»Diesen Menschen ist in der Sowjetunion das Judentum abhandengekommen, weil die stalinistische Diktatur es ihnen systematisch austreiben wollte«, sagt Joel Berger, der frühere Landesrabbiner von Württemberg. Der heute 79-Jährige arbeitet von Anfang an bei dem Programm mit. »Ich sehe es als meine Mission, den Zuwanderern jüdische Traditionen näherzubringen. Ich weise sie ins Judentum ein, erläutere ihnen den Schabbat, erkläre, was man macht, wie man es macht und warum. Auf Neudeutsch würde man sagen: Ich bin ihr Coach.«
Ein- bis zweimal im Monat reist Berger gemeinsam mit seiner Frau aus Stuttgart an, um mit jeweils 50 russischsprachigen Juden den Schabbat zu verbringen. Wenn die Gäste fragen, woher er Russisch kann, antwortet er süffisant: »Das ist ein Geschenk eures Stalin.« Berger wuchs in Ungarn auf, wo er in den 50er-Jahren in der Schule Russisch lernen musste. »Was man in der Jugend lernt, bleibt ewig«, zitiert er den Talmud. Es komme ihm zugute, dass er in einer kommunistischen Diktatur aufgewachsen ist, sagt er, »denn so weiß ich, wie die Zuwanderer ticken, ich kenne ihre Gesinnung«.
Chalav Israel Das Hotel Eden-Park, schön gelegen am Hang in einer ruhigen Seitenstraße, ist Deutschlands einziges koscheres Hotel. Wer das altrosa angestrichene Haus aus dem 19. Jahrhundert betritt, sieht rechts neben dem Eingang das goldgerahmte Koscherzertifikat hängen. Rabbiner Tuvia Hod-Hochwald, ein ausgewiesener Kaschrutexperte, hat es ausgestellt. Das Fleisch sei glatt koscher, liest man da, die Milchprodukte »Chalav stam«, aber auf Anfrage könne man auch »Chalav Israel« bekommen. Ganz wichtig der letzte Satz: »Dieses Koscherzertifikat umfasst auch die Pessachtage, die Küche wird entsprechend gekaschert.«
Dieser Tage wird es wieder so weit sein. Wenn am Donnerstagmittag die letzten Gäste abgereist sind, geht es los: Zwei volle Tage lang werden alle Zimmer saubergemacht, die Fenster geputzt, Matratzen gelüftet, Gardinen gewaschen – und es wird geräumt: Geschirr, Besteck und Gläser, die das ganze Jahr über verwendet werden, verschwinden in einem speziellen Raum. Stattdessen holt man das Pessachgeschirr hervor, das im Keller unter Verschluss liegt. Alles Küchengerät, das nicht separat für Pessach vorhanden ist, vor allem einige große Töpfe, kaschert man draußen im Hof. Das macht der Maschgiach, zum Teil hilft ihm der Hausmeister.
Wenn dann am Sonntag, ein Tag vor dem Sederabend, die Gäste eintreffen, ist von all dem hektischen Treiben nichts mehr zu spüren. An jeder Zimmertür hängt ein weißes Schild mit den Worten »Koscher le Pessach«, und jeder weiß: Das Zimmer ist für Pessach geputzt worden.
Hochsaison Für die Gäste beginnen jetzt die Ferien, doch hinter den Kulissen geht die Arbeit weiter. An den Tagen rund um Pessach herrscht Urlaubssperre im Eden-Park. »Da ist wichtig, dass alle mit an Bord sind«, betont Hotelchefin Erika Brätz. Sie sagt es freundlich, aber sehr bestimmt mit rollendem R und fränkischem Zungenschlag. Pessach ist Hochsaison. »Wir haben festliche Menüs, da wird jede Hand gebraucht.« Wichtig ist, sagt Brätz, dass alle Mitarbeiter – außer dem Maschgiach natürlich – nicht jüdisch sind. »Sonst könnten wir ja am Schabbat und an den Feiertagen gar nicht arbeiten.«
An Pessach kommen weitaus mehr Gäste als sonst. Auch diesmal erwarten Brätz und ihre Kollegen 80 bis 100. Und es kommen nicht nur Zuwanderer wie sonst oft. An Pessach reisen manche Gäste sogar aus England, Frankreich oder Belgien an. Weil es etlichen offenbar gut gefällt, kommen sie immer wieder – nach dem Motto »Nächstes Jahr in Bad Kissingen«. Manche Gäste bringen die ganze Familie mit, Kinder, Enkel, Freunde. »Sie müssen dann die aufwendigen Pessachvorbereitungen nicht selbst zu Hause machen, das ist ja enorm schwierig, vor allem, wenn man kleine Kinder hat«, sagt Brätz.
Doch weil das Eden-Park nur 50 Betten hat, reicht der Platz an Pessach nicht. »Wir müssen ausquartieren«, sagt Brätz. Einige Gäste schlafen dann im Hotel Sonneneck, drei Minuten zu Fuß entfernt, und kommen zu den Mahlzeiten, Gebeten und natürlich zum Seder ins Eden-Park.
Bad Kissingen, der mondäne Kurort zwischen Würzburg und Erfurt, zieht seit Jahrhunderten Gäste an: Bayerns Könige, Österreichs Kaiser, der russische Zar und Deutschlands Reichskanzler Bismarck verbrachten hier die Ferien, badeten in den Heilquellen, tranken das mineralstoffhaltige Wasser, ließen sich von Kurärzten behandeln und speckten ab.
Österreich Das Eden-Park – wo nicht nur jüdische Gäste übernachten können, sondern alle willkommen sind, wie Brätz betont – eignet sich allerdings schlecht zum Abnehmen. Die Küche ist zu gut. Viele Gäste sind voll des Lobes. Auch Rabbiner Berger gerät ins Schwärmen: »Unter all den koscheren Hotels, die ich bisher kennengelernt habe, gehört die Küche des Eden-Park zur Spitze.« Der Koch stammt aus Österreich, hebt Berger hervor, er hat mehrere Jahre in Israel gelebt und dort die jüdische Küche kennengelernt. Sein Schabbat-Tscholent sei ein Gedicht, »ja, ein koscheres Ambrosia«.
Am Montagabend wird Berger, wie an jedem Pessach seit 13 Jahren, an der Stirnseite einer festlich gedeckten Tafel im Speisesaal des Hotels sitzen und den Seder leiten. Vor den rund 100 Gästen stehen dann Sederteller mit den symbolischen Speisen sowie Teller mit Mazzot. Man wird gemeinsam beten, singen, die Haggada lesen und natürlich essen.
Wie immer wird es ein mehrgängiges Menü geben: Gefilte Fisch, danach die obligatorische Mazzeknödelsuppe, einen traditionellen Salat, das Hauptgericht mit zwei Sorten Fleisch, dazu vielleicht wieder Kartoffelkugel mit Zimmes und zum Schluss ein Dessert.
Afikoman Die Kinder werden in der Zwischenzeit den von Berger zur Seite gelegten Afikoman versteckt haben und ihn erst dann wieder herausrücken, wenn sie dafür zumindest die Zusage erhalten, demnächst etwas geschenkt zu bekommen. Vielleicht hält die Hotelchefin auch in diesem Jahr wieder eine Überraschung für die Kinder bereit.
Normalerweise besorgt sie vor Pessach in den Läden der Stadt Spielzeug- und andere Gutscheine, sodass die Eltern ihnen an den Zwischenfeiertagen Geschenke kaufen können als Belohnung fürs Wiederfinden des Afikoman. Rabbiner Berger jedenfalls wäre erleichtert, denn sobald die Kinder den Afikoman herausgeben, kann er endlich das Dankgebet fürs Essen sprechen – und mit dem Seder fortfahren.
www.kurheim-edenpark.de