Es war auch die Aussicht auf etwas mehr Ordnung, die ihn nach Deutschland gelockt hat. »Und dann bin ich ausgerechnet nach Berlin gezogen«, sagt Lior A. (Name von der Redaktion geändert) lachend. 2014 hat er sein Heimatland Israel verlassen, um in die deutsche Hauptstadt zu kommen. »Berlin ist eine kleine Version von Tel Aviv, die Einstellung ist sehr ähnlich, und es gibt immer ein neues Abenteuer.«
Doch noch eine weitere Parallele sieht der 29-Jährige: »Es soll immer schnell gehen, dabei klappt leider nicht immer alles.« Dass die letzte Berlin-Wahl ordentlich schiefging, habe ihn daher nicht besonders überrascht. Auch das kenne er aus Israel: chaotische Wahltage und wiederholte Urnengänge.
Desaster Ein Rückblick: Am 26. September 2021 waren die Berlinerinnen und Berliner dazu aufgerufen, nicht nur die Zusammensetzung des Bundestags, sondern auch die ihrer Bezirksverordnetenversammlungen und des Abgeordnetenhauses neu zu bestimmen. Doch der Wahltag wurde zum Desaster: In fast zehn Prozent aller Wahllokale kam es zu Pannen – fehlende oder vertauschte Wahlzettel, zu wenige Kabinen, lange Warteschlangen bis in den späten Abend hinein.
Eine große Tageszeitung titelte damals »Chaos-Hauptstadt« – ein Ruf, den Berlin schon lange genießt. Im November vergangenen Jahres beschloss der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin schließlich, dass die Wahl wiederholt werden müsse. Kommenden Sonntag ist es nun so weit.
»Die Politik darf sich nicht hinter Phrasen verstecken.«
Judith Reznik
Für A. wird es seine erste Wahl in Deutschland überhaupt sein. Seit gut sechs Monaten hat er einen deutschen Pass, kennt die Verhältnisse vor Ort aber schon seit acht Jahren. »Wenn ich sehe, wohin die Stadt geht und wie alles läuft – es könnte besser sein!«, sagt er.
Vor etwa einem Jahr hat er sich mit einem Marketing-Unternehmen selbstständig gemacht und sieht sich damit grundsätzlich am richtigen Ort: »In Berlin gibt es, wie auch in Tel Aviv, viele Start-ups, hier gibt es viele Möglichkeiten, zu netzwerken und zu wachsen.« Dennoch stehe die Wirtschaft durch die zahlreichen aktuellen Krisen unter Druck. Hier Erleichterung zu schaffen, sei auch Aufgabe der Landesregierung.
»Wir brauchen einen guten Bürgermeister, jemanden, der die Situation wirklich beherrscht«, ist A. überzeugt. Er findet, Berlin könne noch besser darin werden, mehr private Geldgeber anzulocken. »Gleichzeitig darf der besondere Charakter der Stadt nicht verloren gehen.« Diesen Spagat traut er der aktuellen Regierung jedoch eher nicht zu: »Vielleicht brauchen wir jemand anderen an der Spitze.«
bildung Auch Alexandra Melendez ist entschlossen, eine Partei zu wählen, die einen echten Wandel für die Stadt verspricht. Von der Berliner Politik ist sie enttäuscht. »Hier funktioniert nichts so, wie es sollte – allein die Behördengänge!« Die 32-jährige Mutter eines Kleinkindes weiß, wovon sie spricht. Ende Februar wird eine von ihr gegründete Kinderbegegnungsstätte für ukrainische Geflüchtete eröffnet.
Doch hätte sie auf die offizielle Förderung durch das Land Berlin gewartet, würde es den »Nanoʼs Kidsclub« noch lange nicht geben, so Melendezʼ Überzeugung. »Da ist eine echte Bremse gezogen«, beklagt sie sich über den ausufernden Genehmigungsprozess für ein solches Projekt. Nun wird ihr Ganztagsangebot für Kinder zwischen drei und elf Jahren durch eine private Stiftung finanziert.
Dabei gebe es zurzeit insbesondere bei der Betreuung von Kleinkindern eine riesige Nachfrage, weiß die junge Mutter, die auch für ihren Zweijährigen gerade händeringend einen Kitaplatz sucht. »Die vielen neuen ukrainischen Kinder erhöhen den Druck«, sagt Melendez, die selbst in der Ukraine geboren wurde und bis vor Kurzem noch als Sportjournalistin gearbeitet hat.
Als im Februar der russische Angriff auf ihr Heimatland begann, stürzte sie sich in die Geflüchtetenhilfe und widmet sich nun dem, was sie für die dringendste Aufgabe hält: die Bildung der neu angekommenen Kinder. Ihre Forderung an die Berliner Politik: »Im Bildungsbereich muss sich viel verändern.« So seien etwa die Erzieher der Stadt »unterbezahlt und überfordert«. Hier müssten mehr Anreize, etwa höhere Löhne, gesetzt werden, findet Melendez. Bald, so hofft sie, wird ihre Stadt von einer Parteienkonstellation regiert, die diese Probleme endlich angeht.
Antisemitismus Für Judith Reznik ist die Bildungspolitik des Landes ebenfalls von besonderem Interesse. Die 22-Jährige studiert an der Humboldt-Universität und möchte später einmal Lehrerin für Geschichte und Deutsch werden. Sie ist verärgert über den Umgang mit Antisemitismus auf den Berliner Schulhöfen. »Oft müssen betroffene Schüler die Schulen verlassen, anstatt dass die Täter bestraft werden.«
Das dürfe nicht so bleiben, findet die gebürtige Berlinerin. »Die Politik darf sich nicht hinter Phrasen verstecken, sondern muss handeln!«
Doch noch bei einem anderen Thema sieht die Studentin dringenden Handlungsbedarf. »Ich zahle mehr als die Hälfte meines Einkommens für die Miete«, erzählt sie. Sie sei von den Politikern und ihrem immer wieder gebrochenen Versprechen, endlich eine Lösung für den angespannten Wohnungsmarkt zu finden, ernüchtert.
Mit der Wahl zum Abgeordnetenhaus hatten die Berliner zeitgleich für die Enteignung großer Wohnungsunternehmen gestimmt.
Dabei hatten die Berliner zeitgleich mit der Wahl zum Abgeordnetenhaus auch für die Enteignung großer Wohnungsunternehmen gestimmt. Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) sprach sich bisher jedoch stets gegen eine solche Lösung aus. Reznik findet dagegen: »Der Volksentscheid muss berücksichtigt werden.« Diese Frage werde auch für ihre Wahl am Sonntag eine Rolle spielen.
Sicherheit »Ich liebe Berlin, weil es eine weltoffene und tolerante Stadt ist«, erzählt Levi Salomon. Dabei kennt er die Metropole auch von ihrer hässlichen Seite: Seit 25 Jahren beobachtet der Leiter des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) Demonstrationen von politischen Extremisten.
»Die Linie des Sagbaren wurde in dieser Zeit immer weiter verschoben«, berichtet der 64-Jährige, der Anfang der 90er-Jahre von Moskau nach Berlin gezogen ist. Seine Beobachtung: »In den Aufrufen zu Demonstrationen wird immer offener Hass und Antisemitismus artikuliert.« Von der kommenden Berliner Regierung wünsche er sich eine »Erweiterung der Maßnahmen gegen demokratiegefährdende Aktivitäten und mehr Anstrengung für die Sicherheit jüdischer Einrichtungen«.
Was Salomon ebenfalls Sorgen mache, sei eine zunehmende Politikverdrossenheit in der Stadt. Er befürchtet, dass bei der Wiederholungswahl weniger Menschen abstimmen als zuvor. Das aber könne fatale Folgen haben, warnt Salomon: »Demokratiefeindliche Parteien wie die AfD profitieren davon eventuell.« Seine wichtigste Forderung geht daher an die Bürger Berlins: »Wählen gehen und für demokratische Parteien stimmen!« Das sei »ganz, ganz wichtig«, ist er überzeugt.