Marc und ich sind beste Freunde, obwohl wir ganz schön verschieden sind. Er ist mutig und frech, ich bin eher vorsichtig. Aber meistens ist es zum Schluss doch so, dass ich den gleichen Quatsch mache wie er, weil er mich provoziert mit seinem »Du traust dich doch eh nicht!«. So war es auch letztes Jahr an Schawuot.
Unsere Jugendgruppe durfte in der Synagoge übernachten. Ich fuhr sogar alleine hin, obwohl meine Mutter sehr ängstlich ist und immer gleich Panik hat, wenn ich mal etwas länger weg bin.
SCHLAFSACK Die Eltern begleiteten mich abends zur U-Bahn und warteten, bis ich eingestiegen war, mit meinem Rucksack und dem Schlafsack unterm Arm. »Ruf an, wenn du angekommen bist!«, verlangten sie und winkten wie wild, obwohl ich tagsüber doch schon ganz oft allein zu unserem Jugendtreff gefahren bin.
Im Gruppenraum neben der Küche spielten wir mit unseren Madrichim witzige Spiele. Wir nennen die beiden die zwei L, sie heißen nämlich Lior und Liat. Irgendwann fanden die zwei L, dass wir uns auch mit der Tora beschäftigen sollten, weil doch an Schawuot die Nacht des Lernens ist.
RUTH Also haben wir über das Buch Ruth geredet. Ich mag diese Geschichte, weil Ruth ursprünglich auch keine Jüdin war. So wie meine Mutter. Aber dann hat Ruth sich entschieden, dass sie auf jeden Fall zu den Juden gehören möchte, egal, was passiert. Sie hat Boaz geheiratet und wurde zum Schluss sogar die Großmutter von unserem allerwichtigsten König David!
Marc fand die Geschichte offensichtlich nicht ganz so cool wie ich und fing an, die anderen Kids mit Papierkügelchen zu bewerfen, worauf natürlich alle lachen mussten und keiner mehr zugehört hat. Marc und ich mussten raus aus dem Gruppenraum, dabei hatte ich gar keine Papierkügelchen geworfen! Aber die beiden Madrichim behandeln uns immer gleich, und nennen uns M & M, weil ich nämlich Michael heiße und sie uns ihren Spitznamen heimzahlen.
Mein Freund schmiss mit Papierkügelchen – die Madrichim schickten uns aus dem Gruppenraum.
»Komm, lass uns Treppenspringen!«, meinte Marc im Flur. Er nahm mich an der Hand und zog mich am Fahrstuhl vorbei zum riesigen Treppenhaus. »Wer zuerst oben ist!«, rief Marc und rannte gleich los. Aber auch ohne Vorsprung hätte er gewonnen. Es sind nämlich drei Stockwerke mit mega vielen Treppen, so vielen, dass es sogar zwischen den Stockwerken Absätze gibt. Mir egal. Soll Marc doch ganz alleine gegen sich selbst gewinnen!
Beim Runtergehen probierten wir, wie viele Treppenstufen bis zum nächsten Absatz wir auf einmal springen können. Ich fing mit vier Stufen an, Marc natürlich gleich mit sechs. »Ist doch voll easy!«, rief er. »Komm schon!« Ich stellte mich also auch auf die sechste Stufe, schaute zum Absatz runter, schloss die Augen, hörte Marc »Jetzt spring doch!« rufen, öffnete die Augen wieder und … sprang! Yeah! Ich landete auf meinen Knien, was aber nur ein bisschen wehtat.
SCHOCK Der viel größere Schock war der Anblick beim Aufstehen: Ich stand genau vor meinen Eltern! Stell dir das vor! Mitten in der Nacht im Treppenhaus der Synagoge stehst du plötzlich vor deinen Eltern, die dich entsetzt anstarren. »Micha, was machst du da?!«, fragten sie. »Warum hast du nicht angerufen wie vereinbart? Wieso bist du nicht ans Handy gegangen? Wir haben es immer wieder versucht!«
Ups, das Anrufen hatte ich voll vergessen, und das Handy war im Rucksack im ersten Stock, in dem Raum, in dem wir heute alle übernachten würden. »Sorry!«, murmelte ich. Aber es half nichts. Die Eltern schimpften weiter: »Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Wir konnten auch sonst niemanden erreichen. Es ist Feiertag! Niemand geht an sein Handy!«
»Und als wir hier ankamen, warst du noch nicht mal bei den anderen Kindern! Mir ist beinahe das Herz stehen geblieben!« Jetzt schluchzte meine Mutter, und die beiden Kids, die meine Eltern zu uns geführt hatten, schauten verlegen zu Boden.
Zum Glück sprang Marc ein: »Alles meine Schuld! Nur wegen mir sind wir rausgeschmissen worden!« Und dann ergänzte er: »Ab jetzt sind wir gaaaaanz brav!« Marc lächelte dabei so unschuldig, dass mein Vater lachen musste und meine Mutter sogar vergaß, weiter zu weinen.
»Es ist Feiertag! Niemand geht an sein Handy!«, schimpften meine Eltern.
Dann nahm mein Vater Mutter am Arm und sagte: »Komm, ich weiß eine wunderbare Cocktailbar zwei Straßen weiter. Jetzt, wo wir schon mal hier sind und der Junge gut aufgehoben ist!« Die beiden zogen los – und meine Mutter verzichtete zum Glück darauf, mich zum Abschied vor allen abzuküssen.
PIROGGEN Zurück bei den anderen Kindern gab es Käsekuchen, Erdbeeren mit Schlagsahne und Piroggen mit Quarkfüllung. Alles mega lecker! Wir mampften und mampften und erinnerten uns gerne daran, dass Mosche die Tora an Schawuot empfangen hat. Süß ist sie, unsere Tora, wie Milch und Honig! Klar!
Dann gaben uns die zwei L ein Rätsel auf. Und zufällig ein genau passendes! Ich wusste die Lösung natürlich als Erster, weil ich nämlich zählen kann und im Treppenhaus nicht nur rumgerannt bin wie so ein Bekloppter. Marc und die anderen schauten mich ganz überrascht an, als ich die Antwort so schnell rief. Als Preis bekam ich drei große Rosinenschnecken, die ich zu Hause mit den Eltern nach ihrem nächtlichen Schrecken zum Frühstück futtern wollte.
Hier ist das Rätsel: Weißt du die Lösung? Wie viele Treppenstufen sind es vom 1. zum 3. Stockwerk in der Synagoge Oranienburger Straße in Berlin?
Ein Tipp vielleicht: Die Tage des Omer-Zählens (von Pessach bis Schawuot) + die Zahl der Gebotstafeln, die Mosche am Sinai erhalten hat + die Anzahl der Gebote auf den Tafeln + die Zahl der Bücher der Tora.