Die Workshops haben uns geholfen, als Klasse zusammenzufinden. Dadurch, dass wir alle gemeinsam etwas erarbeitet ha- ben, haben wir uns auch zum ersten Mal richtig kennengelernt», sagt Cem, und sein Freund Alex nickt zustimmend. Beide besuchen die Klasse für Agrarwirtschaft und Holztechnik an der Philipp-Holzmann-Schule, einer Berufsfachschule in Frankfurt am Main.
Ihre Klasse, die aus 20 Jungen und einem Mädchen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren besteht, hatte die Chance erhalten, an einem Pilotprojekt des Museums Judengasse in Kooperation mit dem Pädagogischen Zentrum teilzunehmen. Dieses Zentrum war 2007 als Schnittstelle zwischen Jüdischem Museum und Fritz Bauer Institut gegründet worden, mit der Zielsetzung, ein Bild des Judentums und jüdischen Lebens jenseits von Antisemitismus und Verfolgung zu vermitteln.
Ausgrenzung In diesem neuen Projekt geht es nun vor allem darum, die Persönlichkeiten von jungen Menschen mit brüchiger Bildungsbiografie zu stärken, sie für die Vielfalt an Lebensstilen in einer Großstadt ebenso zu sensibilisieren wie für die Mechanismen von Ausgrenzung und Gewalt, um auf diesem Weg langfristig ihrer möglichen religiösen oder politischen Radikalisierung entgegenzuwirken.
So hatten die Schüler zwischen Januar und Juni 2017 die Möglichkeit, an fünf Workshops zu ganz unterschiedlichen Themen und Zielsetzungen teilzunehmen. Auch für die Lehrer wurden mehrere Fortbildungsveranstaltungen angeboten, in denen sie sich zum Beispiel ihrer eigenen «Normalitätsvorstellungen» bewusst werden sollten oder lernen konnten, frühzeitig die Anzeichen für eine Fanatisierung oder Radikalisierung bei einzelnen Jugendlichen zu erkennen.
Muslime Zwei Drittel der Schüler in der Klasse von Cem und Alex sind Muslime, ein Drittel ist christlich, das einzige Mädchen ist Buddhistin. Alle stammen aus Familien mit Migrationserfahrungen. Was sollte diese jungen Menschen dazu bewegen, ein jüdisches Museum zu besichtigen? «Dazu fühlen sie sich weder familiär noch moralisch verpflichtet», ist Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums und des Museums Judengasse, überzeugt. «Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen, wenn wir als Museum relevant bleiben wollen.»
Deshalb habe das Thema Bildungsarbeit für sie ein ganz neues Gewicht erhalten: Wenn also Jugendliche nicht ins Museum gehen, dann muss das Museum zu ihnen kommen, weshalb das neue Programm zur Extremismusprävention auch den leicht sperrigen Titel «AntiAnti – Museum Goes School» erhalten hat. «Das ist das erste Mal, dass ein Museum auf eine Berufsschule zugeht», so Mirjam Wenzel. Insofern leiste «AntiAnti» durchaus Pionierarbeit.
Geplant ist außerdem, die Wirksamkeit dieses Programms fortlaufend zu evaluieren und die Ergebnisse dieser Untersuchung später zu veröffentlichen. Der Alltag in der Klasse für Agrarwirtschaft und Holztechnik war bislang vor allem durch den Kampf um Anerkennung unter den Jugendlichen geprägt. Schule galt den meisten eher als sozialer Treffpunkt denn als Ort des Lernens; mangelnde Konzentrationsfähigkeit bis hin zur Lernverweigerung waren hier nicht selten anzutreffen. So jedenfalls beschreiben Projektleiterin Türkan Kanbicak und Manfred Levy, verantwortlicher Lehrer innerhalb des Pädagogischen Zentrums, die Ausgangslage.
Migration In dem ersten Workshop «Ich und meine Lebenswirklichkeit» erhielten die Schüler die Chance, ihr Selbstverständnis und ihre persönliche Situation zu reflektieren. Dabei wurden auch die Familiengeschichten und Migrationserfahrungen thematisiert. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst bildete wiederum die Basis für die nächstfolgende Lerneinheit, in der es um «Ich und meine Anderen», also um das Verhältnis zu den Mitmenschen in der unmittelbaren Umgebung, ging.
«Wichtig erschien uns, mit den Heranwachsenden zunächst über eigene Diskriminierungs- und Degradierungserfahrungen zu reden, bevor wir dazu übergegangen sind, sie danach zu fragen, welche Gruppen sie selbst ablehnen und warum», erläutert Türkan Kanbicak. «Eine Opferkonkurrenz wollen wir auf jeden Fall vermeiden!»
Cem und Alex hat allerdings ein anderer Workshop noch besser gefallen. So waren die Jugendlichen während einer Stadtteilerkundung aufgefordert, auf die Frage, was für sie Heimat sei, mit ihren Handys kurze Videos als Antwort zu drehen. Zu Hause fühlen sie sich vor allem dort, wo ihre Freunde sind – so die durchgängige Botschaft aller Kurzfilme. Ein Gespräch mit Vertretern aller drei abrahamitischen Religionen gehörte außerdem zum «AntiAnti»-Programm.
Sponsoring Für die Zukunft ist geplant, weitere Berufsschulen für die Teilnahme am Projekt zu gewinnen. Die Finanzierung ist dank des großzügigen Sponsorings durch das Wohnungsunternehmen Vonovia in Höhe von rund einer Million Euro für die kommenden fünf Jahre gesichert.
«Integration darf nicht nur im Klassenraum stattfinden, sondern muss dort geschehen, wo die Menschen leben, wo die gesellschaftliche Realität und Normalität angesiedelt ist», begründet Geschäftsführer Klaus Freiberg das Engagement seines Konzerns. Und vielleicht kann sich das Projekt am Ende selbst abschaffen: «Unser Ziel ist, dass die Schulen dieses Programm irgendwann in ihren Lehrplan aufnehmen», so die Hoffnung von Manfred Levy und Türkan Kanbicak.