Gespräch

»Nach den Wahlen habe ich geweint«

Oleg, Joël, Yael und Alexander, ihr seid alle vier gesellschaftlich engagiert. Gab es einen Moment in eurer Biografie, der euch nachhaltig politisiert hat?
Oleg Shevshenko: Als ich acht Jahre alt war, ist meine Familie von der Krim ins ländliche Thüringen gekommen. Zu Hause wurde am Tisch immer politisch diskutiert. Meine Eltern sind sehr links. Meine Mutter hat Ökonomie in der Sowjetunion studiert, da konnte man ohne Marxismus nicht auskommen. Als Migrantenkind spürte ich in der Schule, dass es meine Klassenkameraden viel leichter hatten. Das fand ich ungerecht und wollte etwas ändern. Mit 14 bin ich dann politisch aktiv geworden und sitze heute für die SPD im Stadtrat in Mühlhausen, bin Kreistagsmitglied und Schatzmeister der SPD Thüringen.

Wieso hast du dich für diese Partei entschieden?
Oleg: Ich bin damals zuerst zum lokalen Büro der Linkspartei gegangen, wo es noch nach SED müffelte. Die Räume sahen so aus, als hätte man die DDR-Vergangenheit nicht überwunden, und ich habe mich dort bei den alten Herren nicht wohlgefühlt. In der Jugendorganisation der SPD war das anders, und dort glaubte man wie ich an den demokratischen Sozialismus. Deshalb bin ich dann ganz überzeugt zu den Jusos gegangen.

Alexander Tsyterer: Auch ich habe in der Schule erfahren, wie schwer es für jemanden ist, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist. Außerdem habe ich Antisemitismus erlebt, dumme Sprüche und Späße, sowie die Gleichgültigkeit aller anderen darüber, wie ich mich damit gefühlt habe. Ich bin in Chemnitz aufgewachsen und lebe bis heute dort. Als 2018 nach einer Messerstecherei auf dem Stadtfest Migranten von Rechtsextremen durch die Stadt gejagt wurden und jüdische Menschen sowie auch Einrichtungen angegriffen wurden, hat das in mir Ängste ausgelöst. Ich fragte mich: Wie geht es hier weiter? Ich kam zu dem Schluss, dass jetzt wir jungen Menschen aufstehen und etwas sagen müssen. Ich wollte in eine Partei der Mitte eintreten, weil man von dort aus am meisten bewirken kann. Die CDU in Chemnitz hatte sehr charismatische Politiker, und mir gefiel, dass die Partei sehr klare Positionen zum Thema Israel und Antisemitismus vertritt. Deshalb bin ich der CDU beigetreten.

Yael Burchak: Ich bin politisch ganz anders gepolt, habe mich lange in antifaschistischen Kreisen bewegt und könnte mir jetzt vorstellen, mich in der Linkspartei – zumindest auf lokaler Ebene – zu engagieren. Mein Erweckungserlebnis, nicht nur mit Blick auf meine politische, sondern auch auf meine jüdische Identität, war der rechtsextreme Terroranschlag auf die Synagoge in Halle, meiner Heimatstadt. In diese Gemeinde haben mich meine Eltern schon meine ganze Kindheit geschickt, aber sicher nicht, um jüdischer zu werden, sondern um Russisch sprechen zu können.

Was hat das Attentat für dich verändert?
Yael: Ich war zwar an dem Tag nicht in der Synagoge, aber die Reaktionen meines nichtjüdischen Umfelds haben mich schockiert. Zwei Schulfreundinnen haben sich bei mir beschwert, dass sie bei der Evakuierung der Terrorzone den Juden Platz machen mussten. Diese Ignoranz hat mich erschrocken. Zudem wurde der Anschlag in der Schule kaum thematisiert, und es lag an mir, für mich als Jüdin und potenziell Betroffene einzustehen. Das war ein Bruch, der mich politisiert hat. Heute engagiere ich mich für jüdisches Leben in Ostdeutschland, ich arbeite bei der Studierenden­organisation Hillel in Leipzig und gründe gerade den queer-jüdischen Verein Keshet Ost.

Joël Ben-Yehoshua: Ich bin als Einziger in der Runde nicht in Ostdeutschland aufgewachsen, sondern in einem kleinen Ort in Hessen, mit einem israelischen Vater und einem sehr jüdisch klingenden Namen. Als ich 2021 nach Jena gezogen bin, habe ich diesen nicht weiter auf meinem Klingelschild behalten. Es ist einfach ein Sicherheitsrisiko. Wobei es auch eine Tatsache ist, dass in den letzten Jahren Nazis mehr Menschen in Hessen umgebracht haben als in Thüringen. Ich glaube, dass ich überhaupt nach Jena gekommen bin, ist schon eine Folge meiner Politisierung. Ich habe meine Masterarbeit in Philosophie zu Hannah Arendt geschrieben, und dieser eine Satz von ihr ist mir im Kopf geblieben: Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich auch als Jude verteidigen.

Was bedeutet dieser Satz für dich persönlich?
Joël: Für mich war mit dem Aufstieg der AfD immer klar: Die meinen mit ihrem Hass im Zweifelsfall auch mich. Deswegen muss ich mich im Sinne Hannah Arendts auch gegen Antisemitismus engagieren. Nach meinem Studium habe ich angefangen, bei der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Thüringen zu arbeiten. Ich kam mitten in der Corona-Zeit, das heißt, bei meiner Arbeit durfte ich mich mitunter durch Chatgruppen voller antisemitischer Verschwörungsmythen wühlen. Gleichzeitig habe ich mich in Thüringen stärker mit meiner jüdischen Identität beschäftigt und bin hier das erste Mal in eine jüdische Gemeinde eingetreten.

Oleg: Auch ich bin sehr spät, erst nach meiner Schulzeit, Teil der Jüdischen Landesgemeinde geworden. Als wir als Kontingentflüchtlinge in Thüringen angekommen sind, hat die Sachbearbeiterin uns empfohlen, einfach gar nichts zu unserem Judentum zu sagen. Dies wurde in meiner Familie so sehr beherzigt, dass niemand in meiner Schule von meinem Jüdischsein wusste. Das geht vielen ostdeutschen Juden so, die im ländlichen Raum leben.

Alexander: Bei meinen Eltern ist es ähnlich. Sie waren dagegen, dass ich mich politisch engagiere, damit ich als Jude nicht auffalle. Das ist ein aus der Sowjetunion erlerntes Verhalten: bei Gefahr lieber den Kopf in den Sand stecken. Mein Bruder und ich gehören einer anderen Generation an. Ich habe zum Beispiel öffentlich Stolpersteine in Chemnitz verlegt und bin trotz der Bedenken meiner Eltern in die CDU eingetreten.

Yael: Wie viel Kritik bekommst du eigentlich aus jüdischen Reihen dafür, dass du in der CDU bist?

Alexander: Unter den Jüngeren wird manchmal rechts mit rechtsextrem gleichgesetzt, das stört mich. Persönlich erlebe ich kaum Kritik. Ich habe das Gefühl, die meisten sind froh, dass ich mich überhaupt in einer Partei einbringe. Denn wenn wir Juden das nicht selbst machen, entscheiden andere über unsere Themen. Manchmal kommt der Vorwurf, dass Juden nicht in eine christliche Partei passen. Aber es gibt bekannte Juden in der CDU: Michel Friedman zum Beispiel finde ich genial.

Joël: Michel Friedman hat einmal gesagt: Natürlich sollte man mit Rechten reden, man sollte nur nicht mit Rechtsextremen reden.

Nun müssen wir aber über sie reden. Am 1. September erhielt die AfD in Sachsen und in Thüringen jeweils über 30 Prozent der Stimmen. Was hat sich für euch an diesem Wahlabend verändert?
Yael: An dem Abend hat mich meine Oma angerufen und gesagt, dass ich jetzt mein Judentum ablegen müsse. Sie kommt aus der ehemaligen Sowjetunion, und ich kann ihre Ängste mittlerweile gut nachvollziehen. Ich habe nicht vor, ihrem Rat zu folgen, und doch hat mich das Wahlergebnis vom 1. September hart getroffen. An dem Tag fuhr ich weinend mit dem Fahrrad durch Leipzig und habe die Leute, an denen ich vorbeikam, abgezählt: eins, zwei, du hast AfD gewählt. Seitdem stelle ich mir die Frage, wie es hier für die jüdische Community und für mich persönlich weitergehen kann.

Hast du schon eine Antwort gefunden?
Yael: Ich glaube, es ist jetzt relevanter denn je, in die jüdische Community zu investieren. Meine Einstellung ist: Ihr wollt mich hier nicht haben? Jetzt bleibe ich erst recht! Innerhalb der vergangenen zwei Jahre habe ich eine starke ostdeutsche Identität ausgebildet. Jetzt zu gehen, hieße, meiner Heimat den Rücken zu kehren. Ich will erst einmal alles versuchen, um hier das jüdische Leben zu unterstützen.

Alexander: Für mich hat der 1. September nicht wirklich etwas verändert. Dass es so kommen würde, wussten wir schon seit der Europawahl im Juni, wo die AfD im Osten bereits stärkste Kraft wurde. Als Vorsitzender des ostdeutschen Studierendenverbandes »Jüdische Allianz Mitteldeutschland« sehe ich meine Rolle jetzt darin, die jüdische Community zusammenzuhalten, den Jüdinnen und Juden hier Mut zu machen und ihnen zu sagen: Es ist noch längst nicht alles verloren, wir leben immer noch in einer Demokratie. Wenn wir jetzt aufgeben, haben die Nazis gewonnen.

Joël: Ich habe mit einem schlimmen Ergebnis gerechnet, und dann kam es doch noch ein bisschen schlimmer. Dass die AfD mit Abstand stärkste Kraft wurde und die Grünen, bei denen ich Mitglied bin, nicht in den Thüringer Landtag gekommen sind, ist sehr bitter. Verändert hat sich für mich aber wenig. Ich war schon vorher äußerst vorsichtig. Lange habe ich gesagt, ich gehe, sobald die AfD in Thüringen die Wahl gewinnt. Aber wann gilt so eine Wahl als gewonnen? Im Moment merke ich: Ich bin jetzt endlich hier angekommen, wohne gerne in Jena und will hier nicht wegziehen.

Oleg: Ich war nach den Landtagswahlen absolut niedergeschlagen. Ich habe mehrere Abende weinend zu Hause im Bett verbracht, und ich muss sagen, dass ich mit meinem Latein ziemlich am Ende bin. Ich weiß schlicht nicht mehr, wie es weitergehen soll. Die Frage ist jetzt, ob ich in Thüringen bleiben kann, und wenn ja, ob ich weiter politisch aktiv bleibe oder in die innere Emigration gehen muss. Es gibt viel, das mich hier hält: Ich liebe Thüringen und Ostdeutschland, hier habe ich eine erfüllende Arbeit, meine Familie und meine Freunde.

Dennoch überlegst du, wegzuziehen.
Oleg: Man kann es sich als Jude einfach nicht erlauben, nicht darüber nachzudenken, aus Thüringen wegzuziehen. Irgendwann könnte der Moment da sein, an dem Björn Höcke, der eine erinnerungs­politische Wende um 180 Grad fordert, an die Macht kommt und seine Vorstellungen umsetzen kann. Ich werde mich nicht wie ein Lamm zur Schlachtbank führen lassen. Diesen historischen Fehler dürfen wir Juden nicht noch einmal begehen.

Welche Gefahr geht konkret von der AfD für jüdisches Leben aus?
Yael: Eine Gefahr ist, dass unter einer AfD-Regierung die Mittel für NS-Gedenkstätten sowie für Demokratie- und Bildungsprojekte gestrichen werden könnten. All das ist wichtig für das Bestehen der jüdischen Gemeinschaft. Aber auch die unmittelbare Förderung der jüdischen Gemeinden wäre unter der AfD nicht sicher. Jörg Urban, der AfD-Spitzenkandidat in Sachsen, hat sich kurz nach der Wahl bereits abfällig über die jüdischen Landesgemeinden geäußert, die sich angeblich nur gegen die AfD aussprechen würden, weil sie staatlich finanziert werden.

Oleg: Mit den aktuellen Zuwendungen durch die Landesregierung kommt die jüdische Gemeinde in Thüringen gerade so über die Runden. Die Mitgliedsbeiträge sind so gering, dass wir ständig kurz vor dem finanziellen Aus stehen. Eine AfD-Regierung wäre daher eine existenzielle Bedrohung für die Gemeinde.

Yael: Die Gemeinden haben ohnehin mit einem großen Mitgliederschwund zu kämpfen. Und wer würde von Jüdinnen und Juden nach einem solchen AfD-Erfolg noch ernsthaft erwarten, dass sie sich als jüdisch zu erkennen geben und in eine Gemeinde eintreten? Wenn es so weitergeht, sieht die Zukunft der jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland düster aus.

Oleg: Und welchen Rabbiner kann man noch für eine ostdeutsche Gemeinde gewinnen, wenn dort die AfD stärkste Kraft oder gar an der Regierung beteiligt ist?

Joël: Dasselbe gilt für die Universitäten. Schon vor den Landtagswahlen haben sich jüdische oder auch nicht-weiße Studierende gut überlegt, ob sie etwa in Jena studieren wollen. Jetzt werden sich sicher noch weniger dafür entscheiden. Jüdisches Leben wird dadurch noch prekärer.

Alexander: Die Wahlerfolge der AfD tragen auch zur Normalisierung des Rechtsextremismus bei. In Chemnitz beobachte ich immer mehr Leute mit neonazistischen T-Shirts und Tattoos. Ich sehe die große Gefahr, dass es irgendwann nur noch in Zentren wie Leipzig oder Dresden jüdisches Leben geben wird, während es aus allen anderen ostdeutschen Orten verschwindet.

Was müssen die demokratischen Kräfte eurer Meinung nach jetzt tun, um eine AfD-Regierung in Ostdeutschland zu verhindern?
Alexander: Die AfD, aber auch das »Bündnis Sahra Wagenknecht« arbeiten mit Emotionen, und das ist Gift für die Demokratie. Doch selbst die demokratischen Parteien erzeugen voneinander Feindbilder. Ich erwarte jetzt von ihnen, dass sie gemeinsam, konstruktiv und ohne Emotionalisierung die Themen und Sorgen ansprechen, die die Bevölkerung in Ostdeutschland beschäftigen.

Joël: Man muss aber auch ganz klar sagen, dass manche Sorgen der Menschen schlicht auf Fantasien beruhen. Es gibt zum Beispiel keine Überfremdung in Thüringen. Das Land stirbt im Gegenteil aus: Jedes Jahr leben etwa 10.000 Menschen weniger in Thüringen, und der Anteil der Ausländer ist gering. Dass jetzt auch viele demokratische Parteien auf die Linie der AfD einschwenken und sagen, die Ausländer sind das Problem, ist absurd. Seit Jahren sehen wir, dass diese Strategie nicht aufgeht, denn am Ende wählen die Menschen dann doch das Original.

Oleg: Vielleicht sollten wir endlich einmal einfordern, dass mehr über die Ängste von Jüdinnen und Juden sowie anderer bedrohter Minderheiten in Ostdeutschland gesprochen wird anstatt nur über die eingebildeten Überfremdungsängste von jemandem, der in einem kleinen Kaff lebt und in seinem Leben noch nie einen Migranten gesehen hat. Dessen Sorgen sind vielleicht weniger wichtig als die von Menschen, für die es gerade um Leben und Tod geht.

Alexander: Ich habe oft an Wahlkampfständen mit Leuten gesprochen, für die die Politik sehr weit weg ist. Die demokratischen Politiker haben vergessen, wie man mit der Bevölkerung redet und wie man ihr die Ängste nimmt. Klar, wir haben in Ostdeutschland verhältnismäßig wenig Migration, dennoch gehen damit auch hier Probleme einher. Wenn die demokratischen Parteien darüber schweigen, werden die Populisten noch mehr gewählt. Die Lösung hier lautet aber nicht, einfach Abschiebungen zu fordern, sondern eine effektive Integration in unsere demokratische Gesellschaft zu ermöglichen. Eine gute Migrationspolitik schützt nicht nur die Bürger, sondern baut auch Vorurteile gegenüber Migranten ab.

Yael: Es gibt in Sachsen und Thüringen so viele Probleme, über die wir sprechen müssten. Dass es in der Politik plötzlich nur noch um Migration geht, kann ich nicht begreifen.

Oleg: Es gibt leider kaum eine Öffentlichkeit für die landespolitischen Themen, etwa den eklatanten Lehrkräftemangel. Dass es im Wahlkampf vor allem um den Ukraine-Krieg und Migration ging, ist ein Grund, warum die demokratischen und nicht-populistischen Parteien so schlecht abgeschnitten haben.

Alexander: Da stimme ich vollkommen zu.

In einem weiteren Punkt seid ihr vier euch einig: Die AfD darf auf keinen Fall an die Regierung kommen. Sieht das in euren jüdischen Gemeinden die Mehrheit auch so?
Joël: Ich höre öfters, dass die AfD ja vor allem gegen Muslime und nicht gegen Juden sei. Diese Vorstellung gibt es sicherlich auch in den jüdischen Gemeinden. Und wenn man Ressentiments gegen Muslime hegt – und die sind auch unter Juden verbreitet –, dann findet man daran durchaus Gefallen. Dazu trägt bei, dass sich die AfD als einziger Freund der Juden inszeniert, weil sie sich gegen den vermeintlich »importierten« Antisemitismus einsetze. Die zentrale Rolle des Antisemitismus in der AfD wird von zu vielen immer noch nicht verstanden. Als ich mich mal mit jemandem darüber unterhalten habe, ob in der Gemeinde über Antisemitismus gesprochen werde, lautete die Antwort: Es gibt nur drei Themen – Putin, Russland, Ukraine. Und das war 2021. Das prägt den Alltag vieler Gemeindemitglieder. Die Bedrohung durch die AfD kommt gar nicht unbedingt an oberster Stelle.

Yael: Ich war überrascht, wie unpolitisch viele der älteren Gemeindemitglieder sind. Andererseits wäre es dreist, von ihnen mehr Engagement zu fordern. Die meisten haben nämlich andere Sorgen: Ein Großteil ist von Altersarmut betroffen, und wählen gehen können ohnehin die wenigsten, weil sie nie einen deutschen Pass bekommen haben.

Alexander: Unsere Gemeindevorsitzende in Chemnitz ist zwar nicht parteipolitisch aktiv, aber sie hat die Mitglieder dazu angeregt, sich mehr über Politik zu informieren und ihre Stimme einer der demokratischen Parteien zu geben. Ich finde das richtig, denn viele ältere Mitglieder aus der Sowjetunion können schlecht Deutsch und haben daher Schwierigkeiten, sich über deutsche Politik zu informieren. Viele wissen nicht, welche Gefahr von der AfD ausgeht.

Müssen die Gemeinden auch nach außen deutlicher politisch Stellung beziehen?
Alexander: Ich finde, ja.

Joël: Gleichzeitig verstehe ich auch die derzeitige Haltung der Landesgemeinde Thüringen, die sich nicht an Stellen exponieren will, wo es vermeidbar ist. Dafür ist man als Gemeinschaft einfach zu klein und von wechselnden Regierungen abhängig. Bei allem, was nicht unmittelbar Antisemitismus sowie die Finanzierung und die Sicherheit der Gemeinden betrifft, hält man sich lieber zurück.

Yael: Viele Mitglieder wünschen sich, dass die Gemeinde sie stärker repräsentiert. Diese politische Leerstelle sollte meiner Meinung nach von den jüdischen Vertreterinnen und Vertretern besser ausgefüllt werden. Es geht auch darum, in aller Drastik zu erkennen, dass sich die jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland auf einem sinkenden Schiff befinden.

Das klingt nach einem pessimistischen Szenario der Zukunft des jüdischen Lebens in Ostdeutschland. Gibt es etwas, das euch dennoch Hoffnung macht?
Oleg: Unsere jüdische Community ist viel sichtbarer geworden als noch vor fünf, sechs Jahren. Junge Jüdinnen und Juden trauen sich weitaus mehr und kommen auch häufiger in den Medien zu Wort. Das halte ich nicht für selbstverständlich und ist eine Errungenschaft derer, die dafür gekämpft haben. Das hilft mir auch ganz persönlich dabei, an einem Ort zu leben, wo es kaum Juden gibt. So vermitteln mir zumindest die Medien das Gefühl, dass ich nicht allein bin.

Yael: Vielleicht klingt es vermessen, aber ich glaube, die junge jüdische Bewegung hat es geschafft, die wohl lebendigste jüdische Gemeinschaft in Ostdeutschland seit der Schoa aufzubauen. Und das trotz des doppelten Erbes des Säkularismus in der Sowjetunion und der DDR. Das jüdisch-ostdeutsche Selbstverständnis ist für mich klarer und präsenter als je zuvor. Ich könnte mir gerade keine bessere Community vorstellen. Es existiert eine gemeinsame Resilienz, die mich sehr stärkt. Junge jüdische Menschen haben sich nach dem 7. Oktober aufgerafft und gelernt, Diskrepanzen auszuhalten und eine echte Gemeinschaft zu formen, in der sie wirken können. Das gibt mir sehr viel Hoffnung.

Alexander: Ich beobachte in den Gemeinden Ähnliches. In Chemnitz kommen nun Menschen in die Synagoge, die ich vor fünf Jahren überhaupt nicht kannte. Früher hatte ich das Gefühl, dass die Gemeinden stillstehen. Wir sind alle so vor uns hinvegetiert und beinahe eingegangen. Es gab kaum Veränderungen oder Austausch. Nun sehe ich eine neue Aufgeschlossenheit, auch den jungen Menschen gegenüber. Der Landesverband von Sachsen hat den studentischen Verein, den ich gegründet habe, sofort finanziert. Das macht mir Mut und zeigt, dass wir ernst genommen werden.

Joël: Mir fällt wenig Hoffnungsvolles ein. Wenn ich aber etwas Positives sagen soll: Thüringen ist wirklich unglaublich schön. Die Natur, die Hügel, die Täler, die Wälder. Es ist hier wahnsinnig lebenswert, wenn man die Politik ausklammert. Manchmal fragen mich Leute: Wie hältst du das dort nur aus? Und ich denke: Wie hältst du es in Berlin aus? Da ist es laut, und alles stinkt. Ich setze mich abends auf mein Fahrrad und bin in fünf Minuten im Wald. Genau deswegen bin ich trotz allem immer noch gern da. Die Frage ist nur, wie lange noch?

Mascha Malburg und Joshua Schultheis führten das Gespräch am Sonntag in Leipzig.

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