»Alle haben sie mitgemacht«, sagt Annegret Schüle. Sie ist Kuratorin und Leiterin des »Erinnerungsortes Topf & Söhne« am Stadtrand von Erfurt. »Alle«, damit ist die Leitung der Reichsbahn gemeint. Seit dem vergangenen Wochenende wird im Erinnerungsort die Ausstellung »Sonderzüge in den Tod« in dem Gebäude der Ofenbauer von Auschwitz gezeigt. Eine Ausstellung der Deutschen Bahn, die sich mit der Schuld des Unternehmens an dem Mord an Juden, Sinti und Roma beschäftigt und ansonsten in Bahnhöfen zu sehen ist.
Dass die Ausstellung genau am 9. Mai eröffnet wurde, ist kein Zufall. Exakt 72 Jahre zuvor begann die Deportation von Thüringer Juden. Doch im Erinnerungsort wollte man nicht nur die Vorgänge bei der Reichsbahn zeigen, wie beispielsweise die Briefe von Karl Wolff, dem Chef des persönlichen Stabs des SS-Oberbefehlshabers Heinrich Himmler. Täglich rollten von Juli bis September 1942 Züge vom Warschauer Ghetto nach Treblinka.
Schindlers Liste Nachzulesen und auf Fotos zu erkennen sind in den nächsten Wochen auch Thüringer Geschichten vom Untertauchen jüdischer Einwohner während der NS-Zeit. Es sind Geschichten von Verfolgung und Tod – und manchmal auch Zeugnisse vom glücklichen Überleben. Beispielsweise die Geschichte von Hannelore Wolff.
Die 1923 Geborene wohnt heute in den USA und war die einzige Überlebende der Familie, die mit einem Transport am 9. und 10. Mai 1943 in das Lubliner Ghetto verschleppt wurde. Sie war gar nicht zu diesem Transport »vorgesehen«, ging jedoch ihrer jüngeren Geschwister und der Mutter wegen freiwillig mit. Geholfen hat das den dreien nicht. Hannelore Wolff aber kam auf Schindlers Liste, überlebte und emigrierte. Heute heißt sie Laura Hillman. Den alten Namen hat sie abgelegt und ihre Familiengeschichte aufgeschrieben.
Auf andere Weise bewegend, nämlich mit nüchterner Aufzählung, ist eine Arbeit von Beate und Serge Klarsfeld, die der Bahn-Ausstellung zugeordnet ist. Die Klarsfelds haben Fotos und 800 Namen von deutschen oder österreichischen jüdischen Kindern zusammengestellt, die sich in Sicherheit wähnten, weil sie bereits nach Frankreich geschickt worden waren. Doch die Nazis deportierten 800 von ihnen zurück nach Deutschland. Nur zwei Prozent dieser Kinder haben überlebt. Sie sind durch die Ausstellung der Anonymität entrissen worden.
Begleitprogramm »Es ist gut, dass die Bahn sich zu dieser Erinnerungsinitiative bekannt hat«, sagt Annegret Schüle. »Die Erinnerung muss ins Heute führen«, ist die Kuratorin überzeugt. »Das Morden in Ruanda vor 20 Jahren war ebenfalls ein Morden aus rassistischen Gründen«, erklärt sie ihr Motiv, warum im Juni mehrere Begleitveranstaltungen zu dieser Ausstellung dem Thema »Kolonialismus, Völkermord, Erinnerung« gewidmet sind.
»Ohne die Bahn wäre der Massenmord an den Juden im Osten nicht so reibungslos über die Bühne gegangen«, bewertet Reinhard Schramm, der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde, die aktuelle Ausstellung. »Ich bin sehr froh, dass das Team um Leiterin Annegret Schüle unablässig die europäische Dimension des Holocaust zeigt und zudem nun auch die Rolle der Reichsbahn beleuchtet.«
Parallel zu der Erfurter Ausstellung gibt es Workshops. Die ersten Projekte unter dem Motto »Lernen am anderen Ort« liegen von einer Schule aus Jena vor. Rebekka Schubert, die Pädagogin im Erinnerungsort, wird dort mit Jugendlichen ab der neunten Klasse ins Gespräch kommen. »Das Interesse an dieser Art von Lernen ist groß«, sagt sie. In den vergangenen drei Jahren kamen 35.000 Besucher zum »Erinnerungsort Topf & Söhne«.