Zwei Menschen unterschiedlicher Generationen und verschiedener Herkunft und Biografie haben sich am Mittwoch vergangener Woche im Französischen Kulturinstitut in München getroffen, um über die Zukunft der Erinnerungskultur angesichts der aktuellen Herausforderungen zu sprechen. Moderator der Veranstaltung war Michael Mayer, Leiter der Abteilung für Zeitgeschichte an der Akademie für Politische Bildung Tutzing.
Auf dem Podium waren IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch, die als Schoa-Überlebende und Zeitzeugin ihre Hoffnung auf das Fortbestehen des Wissens und Bewusstseins für die Verbrechen des Holocaust vor allem auf die Jugend setzt. Als Holocaust-Beauftragte des World Jewish Congress (WJC) weiß sie um die Notwendigkeit der Erinnerung für das Leben und die Demokratie heute. Für ihr Engagement wurde sie mehrfach ausgezeichnet.
gesprächspartner Ihr Gesprächspartner war der französische emeritierte Forschungsdirektor am Centre national de la recherche scientifique und Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls »Staatsbürgerliche Bildung, Geistes- und Sozialwissenschaften und Zusammenführung der Erinnerung«, Alain Chouraqui.
Als Gründungspräsident der Fondation du Camp des Milles – Mémoire et Éducation (Stiftung zum Erhalt der Gedenkstätte am ehemaligen Internierungslager Camp des Milles) vermittelt er in dem ehemaligen Internierungslager die Geschichte französischer und europäischer Juden insgesamt unter dem Vichy-Regime. Am Vortag der Podiumsdiskussion war er vom NS-Dokumentationszentrum ausgezeichnet worden.
»Die Schoa ist die Matrix für alle anderen Länder – bis heute.«
Alain Chouraqui
Eingeladen hatte die Kommission für die Entschädigung der Opfer von Enteignungen aufgrund der antisemitischen Gesetzgebung während der Okkupationszeit (CIVS) in Berlin in Kooperation mit dem Institut Français München.
methoden »Die Erinnerung an die Schoa und die Deportation ist durch die Erosion der Zeit und den Anstieg des Revisionismus, der Holocaustleugnung und des Antisemitismus in Frankreich, Deutschland und ganz Europa geschwächt«, begründete die CIVS dieses Thema. »Die Erinnerungskultur ist herausgefordert und muss ihre Methoden, Werkzeuge und Praktiken erneuern, wenn sie möglichst viele Menschen ansprechen und sich an die Entwicklungen der heutigen Gesellschaft anpassen will.«
Alain Chouraqui beschrieb den Weg, wie aus dem Internierungs- und Deportationslager Camp des Milles aus der Zeit der Vichy-Regierung in Frankreich die heutige Gedenkstätte wurde. Diese wende sich mit ihrem Informationsprogramm an alle Generationen und gesellschaftlichen Schichten, um über den Holocaust, aber auch die weltweiten Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufzuklären.
»Die Schoa ist die Matrix für alle anderen Länder – bis heute«, sagte er und beschrieb die Arbeit der Gedenkstätte: »Dank langer multidisziplinärer Arbeit war es möglich, die Lehren aus der Schoa zu verallgemeinern und festzustellen, dass bei verschiedenen Völkermorden auf unterschiedlichen Kontinenten und in verschiedenen Kulturen sich doch stets die gleiche Mischung aus gleichen individuellen, kollektiven und institutionellen Mechanismen wiederfindet, sowie die gleichen Etappen, die zum Schlimmsten führen.«
lehren Was lehrt diese Erinnerung für heute, neben anderen, ebenso wesentlichen Erkenntnissen? Die beiden Podiumsteilnehmer waren sich in der Bewertung dieser Fragestellung weitgehend einig: Rassismus und Antisemitismus hätten ein außerordentlich explosives Potenzial, das eine besondere Wachsamkeit und Entschlossenheit rechtfertige.
Zugleich sei Antisemitismus in Europa historisch gesehen ein Symptom für ausgeprägte gesellschaftliche Schwierigkeiten und ein Vorbote von Gefahren für alle. Geschwächte Demokratien könnten zu kriminellem Autoritarismus führen. Deshalb müsse man gerade in den Anfängen entschlossen reagieren.
Die Antwort auf die Frage des Moderators, wie man an den Rest der Bevölkerung herankomme, da Schüler nur ein Teil der Gesellschaft seien, war hingegen nicht ganz einfach. Charlotte Knobloch verwies auf die Verbindung zum Antisemitismus: »Deshalb müssen wir die Menschen über die Vergangenheit aufklären. Aber gleichzeitig müssen wir ihnen Mut geben, an einer festen Demokratie heute mitzuarbeiten.«
»Die jungen Leute wissen, dass sie die letzte Generation sind, die Zeitzeugen trifft.«
IKG-Präsidentin Charlotte KNobloch
Alain Chouraqui verwies auf die Anhängerschaft von Marine Le Pen in Frankreich. Extremismus und Nationalismus bestünden weiter. Der Antisemitismus wachse international. Der Kampf dagegen sei notwendig und ein Problem der gesellschaftlichen Motivation.
frankreich Er streifte die politische Situation in Frankreich während des Krieges, in der es neben dem Vichy-Regime auch die Résistance gab, und erinnerte an seinen Vater, der sich freiwillig zu den Freien Französischen Streitkräften von General Charles de Gaulle gemeldet hatte. Vor genau 77 Jahren, im April 1945, war er bei der Befreiung des Lagers Landsberg im Einsatz.
Seine Aufforderung: »Lassen Sie uns heute gemeinsam die Erfahrung und das Wissen, welche die Menschheit so hart erarbeitet hat, aufgreifen. Mit der Entschlossenheit, die das Gedenken an vergangene Schrecken und die Ablehnung möglichen neuen Leids erfordern. Um den Mut zur Hoffnung weiterzugeben. Um neue, sich anbahnende Tragödien zu verhindern und um sie durch Schönheit und Liebe ersetzen zu können.«
Wie kann die Erinnerung umgesetzt werden, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? Für Alain Chouraqui ist dabei die Arbeit in der Gedenkstätte Camp des Milles wichtig. Charlotte Knobloch sieht einen Ausgleich für die so wichtige persönliche Begegnung bei den Jüngeren: »Ich habe großes Vertrauen in die Neugier der jungen Generation. Ich erlebe deren Interesse bei Schulbesuchen – und das macht mir großen Mut! Die jungen Leute wissen, dass sie die letzte Generation sind, die Zeitzeugen trifft. Sie wollen so viel wie möglich an Begegnungen erleben und mitnehmen. Ich habe keinen Zweifel, dass sie das energisch weitergeben werden – wenn wir ihnen die Möglichkeit geben!«