Ratsversammlung

»Mut statt Wehmut«

Stehend applaudierten die Präsidiumsmitglieder und Delegierten der Ratsversammlung am Sonntag im Ignatz-Bubis-Gemeindezentrum in Frankfurt am Main. Foto: Thomas Lohnes/ZR

Ein Abschied schmerzt immer, auch wenn man sich schon lange darauf freut.» Das schreibt Arthur Schnitzler. Aber Arthur Schnitzler kannte den Zentralrat nicht. Freude kann ich in diesem Moment überhaupt nicht empfinden, denn es ist schon viel Abschiedsschmerz dabei, ganz schön heftig, heftiger noch, als ich dachte. Aber: Mut statt Wehmut. (…)

Wenn ich die letzten vier Jahre Revue passieren lasse, stelle ich fest für mich: viel getan, bleibt noch viel zu tun. Natürlich hat im Leben nicht immer alles mit Geld zu tun. Aber wir wissen: Mit Geld kann man noch mehr tun als ohne Geld. Und darum war es wirklich wichtig, dass es gelungen ist, die Zuwendung aus dem Staatsvertrag im Jahre 2012 zu erhöhen, zu verdoppeln, von fünf auf zehn Millionen. (…)

Wir haben damit auch etwas gemacht, denn der Zentralrat ist ja keine Sparkasse, sondern will dieses Geld immer investieren, umsetzen in jüdische Arbeit für unsere Menschen. Ich glaube, wir haben einen wirklichen Modernisierungs- und Innovationsschub ausgelöst und bewirkt. Wir haben die Arbeit im Zentralrat modernisiert, intensiviert und so den Zentralrat insgesamt positioniert als das jüdische Kompetenzzentrum. (…)

Aber ich glaube, wir haben noch mehr getan. Rabbinerinnen und Rabbiner werden jetzt jedes Jahr in Deutschland ordiniert (...), natürlich mit wesentlicher finanzieller Assistenz und Hilfe des Zentralrats. Kultur ist immer eine große Domäne im Judentum gewesen. Wir machen im Zentralrat jetzt richtige Kulturarbeit. Wir haben diesen Bereich wesentlich ausgeweitet, intensiviert, das Niveau noch einmal angehoben. Mit dem Ergebnis: An mehr als jedem zweiten Tag im Jahr gibt es eine jüdische Kulturveranstaltung, die der Zentralrat ausrichtet, organisiert und finanziert, die wir gerade in unsere kleinen und mittleren Gemeinden, die keine eigene Kulturarbeit haben, schicken – ein Service vom Zentralrat zum Genießen. So wie wir überhaupt mehr Service bieten wollen. (...)

bildung Stichwort Bildung: Wir konnten in den letzten Jahren ganz wenig dazu beitragen. Wir hatten nicht die Mittel dazu. Jetzt haben wir sie. Jetzt machen wir es. Vor knapp zwei Jahren haben wir unsere neue Bildungsabteilung eröffnet, ein neues Flaggschiff in der Armada des Zentralrats, auf gutem Kurs auf dem Weg zur neuen jüdischen Akademie. (...)

Politisch waren die letzten Jahre für uns keine leichten. Stichwort Israel. Wenn es um Israel geht, sind wir Juden einfach nicht neutral. Und wir sollten auch gar nicht erst so tun, als seien wir neutral. Erstens nimmt es uns keiner ab. Und zweitens: Wir wollen gar nicht neutral sein. Warum auch? Nein, wir sind Partei. Unsere Herzen sind immer mit unseren Brüdern und Schwestern in Israel. Keine Macht der Welt wird jemals etwas daran ändern können. Und wenn ich die professionellen Israelkritiker oder -hasser höre, da bin ich verärgert und verletzt.

schulterzucken Denn auf die Frage, wie Israel angesichts der vielen Bedrohungen bestehen könne, antworten sie oft nur mit einem nonchalanten Schulterzucken, nach dem Motto: «Schauen wir mal». Da spürt man doch eine Empathie aus dem Eisschrank, Gefühle aus dem Gefrierfach, Frost auf der Seele. Und das tut weh. Wir Juden können natürlich nicht so empfinden. Wir müssen anders fühlen. Denn wer schon einmal nur ganz knapp der totalen Vernichtung entgangen ist und dafür wirklich einen millionenfachen Blutzoll hat zahlen müssen, der kann einfach nicht gelassen, geruhsam, gemütlich abwarten, wie die Sache diesmal ausgehen kann. Das geht nicht.

Wir Juden wissen doch: Wenn jemand droht, uns vernichten zu wollen, müssen wir das ernst nehmen. (...) Israel steht daher immer für mich für unsere jüdische Selbstbehauptungskraft im Sturm der Geschichte. Und auch wenn wir genau wissen, dass wir mit dieser Haltung unserer Herzen in diesem Land niemals Popularitätswettbewerbe gewinnen können: Da ist unser Platz, an der Seite Israels, nirgendwo sonst. (...)

Dieser Sommer war schwierig für Israel. Israel ist der Gaza-Krieg doch wirklich aufgezwungen worden. Welches Land auf der Welt könnte es denn hinnehmen, dass seine Menschen tausend- und abertausendfach beschossen werden? Kein Land würde das akzeptieren können. Israel hatte daher jedes Recht der Welt, ja sogar die Pflicht, sich zu wehren. Wir wünschen uns deshalb viel mehr Empathie in der Öffentlichkeit, weniger Kritik und viel mehr Verständnis für Israel. (...)

Antisemitismus
Dieser Sommer war aber auch schwierig für uns Juden hier. Wir haben Schockwellen von Judenhass erlebt, Ausbrüche von Antisemitismus, überall, in ganz Europa. Das hätten wir uns nie im Leben vorstellen können. Synagogen sind angegriffen, jüdische Menschen bedroht worden. Hass in den sozialen Netzwerken noch und noch. Und auf deutschen Straßen haben wir antisemitische Parolen gehört, von schamlosester Scheußlichkeit. Wir können es gar nicht oft und laut genug sagen: Wenn auf deutschen Straßen ein entfesselter, wilder, wirrer Mob Juden als Schweine beschimpft, wenn sie brüllen, grölen und schreien, Juden sollen verbrannt, geschlachtet und vergast werden, dann hat das mit Kritik an israelischer Politik rein gar nichts zu tun. Das ist der reine, brutale und widerwärtige Antisemitismus.

Niemals im Leben werden wir das hinnehmen. Das hat uns sehr wehgetan, hat uns getroffen und verletzt. Aber das Besondere war: Als diese widerlichen Demonstrationen abliefen, Mitte Juli, war das in Deutschland kein großes Thema. Es ist nicht wirklich thematisiert worden. Ganz im Gegenteil. Die meisten dieser Demonstrationen spiegelten sich in Polizeiberichten, in denen der Satz stand: «Keine besonderen Vorkommnisse».

solidarität Als wir dann gesehen haben, keiner im Land macht das zum Thema, da haben wir uns gesagt, wenn es denn keiner macht, dann müssen wir selbst es tun. Und das haben wir dann auch getan. (...) Aber natürlich fragt man sich: Warum kommt das nicht von selbst? Was ist eine Solidarität wert, die man selbst herausfordern, herauskitzeln, einfordern muss? Wenn wir selbst nicht für uns sind, wer ist dann eigentlich von selbst für uns? Eine ganz schwierige und schmerzvolle Frage. Aber auf der anderen Seite: Als wir die Solidarität gebraucht haben, eingefordert haben, da kam sie auch. Immerhin.

In diesem Sommer waren viele jüdische Menschen hier besorgt, bedrückt, bekümmert, verunsichert, auch verängstigt. Ich habe das Wort Angst ganz bewusst in der Öffentlichkeit nicht in den Mund genommen. Aber die gab es schon auch bei vielen unserer Menschen. Hunderte Male bin ich angesprochen worden: Können wir hier bleiben, sollen wir hier bleiben, haben wir Juden unter diesen Umständen hier überhaupt eine Zukunft?

Ich habe einen Brief an alle Gemeindemitglieder geschrieben, habe versucht, Mut zu machen, zu vermitteln: Wir nehmen eure Sorgen ernst und auf. Aber auf der anderen Seite: Wir Juden resignieren nicht. Diesen Triumph werden wir unseren Feinden ganz bestimmt niemals gönnen. Allen, die uns ewig hassen, setzen wir unsere unverwüstliche jüdische Begeisterung, unseren besonderen jüdischen Spirit, unsere Kraft, uns immer wieder zu behaupten, entgegen – allen Hindernissen, allen Feindseligkeiten zum Trotz.

Kundgebung Von diesem Spirit getragen war auch die große Kundgebung, die wir am Brandenburger Tor am 14. September abgehalten haben. Das war eine Veranstaltung von jüdischem Stolz und von jüdischer Würde. (...) Diese Kundgebung war ganz wichtig für uns. Sie war ein Akt der Selbstvergewisserung, ein Zeichen auch an andere und an uns selbst: Wir Juden lassen uns nicht einschüchtern. Wer darauf wartet, muss warten bis in alle Ewigkeit. Es ist aber auch das Zeichen an alle, die uns hassen, sie sind hier ausgeschlossen, politisch geächtet. Gerade deshalb war es so wichtig, dass praktisch die gesamte politische Elite des Landes bei uns war. Auch das ist nicht selbstverständlich. (...)

Ich ziehe aus all dem den Schluss: Wir brauchen einen starken Zentralrat. Wir brauchen ihn nicht für andere, wir brauchen ihn für uns selbst. Unbedingt. Und der Zentralrat ist im Moment politisch stark, sehr stark sogar. Aber das muss nicht so bleiben, dafür gibt es keinen Automatismus und keine Garantie. Dafür gibt es auch viel zu viele im Land, die uns so gerne so viel kleiner sehen möchten. Darauf müssen sie aber lange, lange warten. Wir müssen uns diese Stärke immer wieder neu erkämpfen mit politischer Kompetenz und noch mehr politischer Präsenz. Ganz von alleine wird es gewiss nicht gehen. (…)

Wenn wir die Stärke behalten wollen, müssen wir uns also anstrengen. Wie oft im Leben ist es wichtig, eigene schwere Fehler zu vermeiden. Mir ist es deshalb ganz wichtig, hier heute noch einmal zu sagen: Wir müssen politisch unbedingt zusammenhalten. Ich weiß, unsere Gemeinschaft ist größer geworden, sie ist heterogener geworden, diffuser. Es gibt auch zentrifugale Kräfte. Unsere Stärke dürfen wir nicht fragmentieren. Bei uns müssen Kräfte gebündelt werden, die uns auseinandertreiben, manchmal auch auseinandertreiben wollen. Dem müssen wir widerstehen mit aller Kraft. Unsere Stärke dürfen wir nicht fragmentieren und damit marginalisieren und atomisieren. Bei uns muss zusammenbleiben, was politisch zusammengehört. Die Pluralität dürfen wir nicht als Last empfinden, sondern als etwas, was uns bereichert und stärkt. Wir sind verschieden, aber wir gehören zusammen. Und genauso muss es politisch auch bleiben.

Abschied Es ist jetzt Zeit für mich, Goodbye zu sagen. Natürlich denke ich an den guten Spruch in den Sprüchen der Väter: «An dir ist es nicht, die Arbeit zu vollenden, aber du darfst dich ihr auch nicht entziehen.» Und ich denke an die wundervollen Worte von Leo Baeck: «Eine Generation kommt, und eine Generation geht. Der Weg des Menschen ist kurz, aber der Weg der Menschheit ist lang.» Ich habe diese Worte immer so verstanden: Jeder soll in seiner Zeit das ihm Mögliche tun. Das habe ich versucht, mit Herz und Hingabe, mit Begeisterung und Leidenschaft. Hoffentlich hat man es auch gemerkt. Jeder macht dort weiter, wo andere aufhören. (...) Und andere müssen wiederum da weitermachen, wo man selbst aufhört. Das ist der Lauf der Welt, der jüdischen Welt ohnehin.

Der jüdischen Arbeit werden die Herausforderungen bestimmt nicht ausgehen. Mir war es jedenfalls eine Ehre und Freude, mit euch gemeinsam für unsere Menschen zu arbeiten, die uns so sehr am Herzen liegen. Immer wieder geht es doch darum, unsere Gemeinschaft fit zu machen, sie zu wappnen für die Zukunft, auch für Schläge und Rückschläge, die offenbar immer und immer wieder kommen.

Das scheint ein Stück unseres jüdischen Schicksals zu sein. Aber diese Schläge und Rückschläge dürfen niemals zu Einschlägen in unseren Seelen führen. Immer müssen wir dagegenhalten, kraftvoll, kompetent, konsequent, couragiert, resolut, mit unserem einmaligen kostbaren jüdischen Spirit, der uns aufgibt, dennoch immer wieder aufzustehen, dennoch immer wieder positiv nach vorne zu denken, der uns über die Jahrtausende hinweg getragen hat.

Wir sind zusammen. Und wenn wir nur zusammenstehen, dann wird am Ende keine Macht der Welt uns etwas anhaben können. Lassen Sie mich schließen mit den Sätzen, mit denen ich meinen Brief vom Sommer an die Gemeinden beendet habe. Dort heißt es: «Wir bleiben, was wir sind: bewusste und selbstbewusste Juden. Und unser Judentum tragen wir nicht als Last – sondern mit unbeugsamen Stolz!» So wird es immer sein. Das jüdische Volk wird leben.

Berlin

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