Helene Schneiderman weiß noch genau, wie entsetzt ihre Eltern damals waren. Ihre Gesangslehrerin hatte ihr erzählt: »Du musst nach Deutschland – da steht in jeder Stadt ein Opernhaus.« Ausgerechnet Deutschland, meinte ihre Mutter. Warum muss es ausgerechnet Deutschland sein?
Helene Schneiderman flog 1982 dennoch aus den USA herüber – und ist bis heute geblieben. Inzwischen ist die 63-Jährige eine international renommierte Opernsängerin. Ihr Stammhaus ist seit mehr als drei Jahrzehnten die Staatsoper Stuttgart, Gastspiele gibt sie in aller Welt. Ihre erste Station war aber Heidelberg, am Stadttheater begann die Karriere der Mezzosopranistin. 36 Jahre später kam sie jetzt für einen Liederabend zurück. Und begeisterte im ausverkauften Saal der Jüdischen Kultusgemeinde mit einer bewegenden Hommage an ihre Eltern.
VORBEHALTE Diese nämlich hatten damals Angst um ihre Tochter, erinnert sich Helene Schneiderman. »Sie fürchteten, dass ich mich in den Sohn eines Nazis verliebe – die lebten ja zu dieser Zeit alle noch.« Doch es kam anders: In der Heidelberger Synagoge lernte die junge Sängerin Michael kennen, einen Juden. Zwei Jahre später heirateten sie. »Dann war es auch für meine Eltern etwas leichter«, sagt sie, »und sie kamen uns bald in Deutschland besuchen.«
Die Eltern hatten Angst,
dass sich ihre Tochter in den Sohn eines Nazis verlieben könnte.
Helene Schneidermans Mutter Judith hat ihre Lebensgeschichte in dem Buch Ich sang um mein Leben veröffentlicht. Das Werk ist ein erschütterndes Zeugnis des Terrors, den die Nazis über so viele Menschen brachten – aber auch eine Geschichte voller Hoffnung, Liebe und darüber, wie schön das Leben sein kann.
Judith Schneiderman war es, die ihrer Tochter die Liebe zum Gesang weitergegeben hat. Im KZ Außenlager Sömmerda musste sie als 16-Jährige – noch kurz vor der Befreiung 1945 – vor SS-Offizieren singen. Einige Monate zuvor war sie mit ihrer ganzen Familie nach Auschwitz deportiert worden. An der Rampe wurde sie von ihren Eltern und zwei ihrer Schwestern getrennt – sie sah sie nie wieder.
In ihrem 180-seitigen Buch nimmt Judith Schneidermans Zeit in den Arbeits- und Vernichtungslagern der Nazis keine 50 Seiten ein. Sie erzählt vielmehr von ihrer Kindheit in der kleinen Stadt Rachov, die heute zur Ukraine gehört. Sie erzählt, wie sie nach dem Krieg in einem Lager für »Displaced Persons« in Landsberg Pinek traf, dessen ganze Familie von den Nazis ermordet worden war; wie sie mit ihm in die USA auswanderte und dort vier Kinder bekam – als drittes kam Helene.
Und so bunt, furchtbar, traurig und schön wie Judith Schneidermans Leben ist auch der Liederabend, den ihre Tochter aus ihren Memoiren gemacht hat. Mit auf der Bühne sind der Bariton Motti Kastón, der Pianist Götz Payer und die Schauspielerin Franziska Walser, die Tochter von Martin Walser, die Passagen aus der Autobiografie liest.
KINDHEIT Alles ist gut, als Judith noch klein ist. Es ist eine von Entbehrungen geprägte, aber doch glückliche Kindheit mit ihren sieben Geschwistern, ihrer modernen Mutter und dem tiefreligiösen, gutmütigen Vater. Einmal wünscht sich Judith ein neues Kleid – und wenn Helene Schneiderman das jiddische Lied »Yome, yome« singt, das von den Wünschen eines kleinen Mädchens erzählt, ist das Grauen noch weit weg.
Die Schoa dominiert den Abend nicht, so wie sie nicht die Erinnerungen von Judith Schneiderman dominiert.
Doch nur kurze Zeit später kündigt »Unter Beymer wachsen Grosen« das drohende Unheil an: die deutsche Besatzung. Der klare, weiche Mezzosopran Schneidermans lässt die 200 Zuhörer in Heidelberg frösteln. Judiths Wunsch ging tatsächlich in Erfüllung, zum Pessachfest 1944. Doch statt in der Schule trägt die 15-Jährige das blaue Matrosenkleidchen an jenem Morgen, als die Nazis sie und ihre Familie abholen.
Die Schoa dominiert den Abend nicht, so wie sie nicht die Erinnerungen von Judith Schneiderman dominiert. Vier Lieder untermalen die schlimmste Zeit, einige Zuschauer haben Tränen in den Augen. Diese Passagen fallen auch der Tochter jedes Mal wieder schwer. Wenn sie das jiddische Wiegenlied »Makh tsu die Eygelekh« singt, das ihre Mutter ihr einst beigebracht hat, kommt der Schmerz ganz nahe. »Es ist sehr schwer für mich, das Lied zu singen.« Im Januar starb ihre Mutter im Alter von 89 Jahren, ihren Vater Pinek hatte sie fünf Jahre zuvor verloren.
»Aber das ist kein Abend der Trauer«, sagt die Mezzosopranistin, »das ist mir wichtig.« Und tatsächlich: Wenn die Nazis besiegt sind, der Terror endet und Schuberts »Frühlingsglaube« erklingt, kommen die Hoffnung, das Glück, die Liebe zurück in Judith Schneidermans Leben. Und auch im Saal in Heidelberg wandelt sich die Stimmung, die Menschen atmen auf. Diese Botschaft ist es, die Helene Schneiderman so wichtig ist: »Meine Mutter war eine lebenslustige Frau, meine Eltern hatten eine große Liebe und ihre gemeinsame Geschichte ein Happy End.«