Etwas Gutes hatte der Lockdown für mich: Ich war viel zu Hause und verfügte plötzlich über genügend Zeit, nach neuer Literatur für die Querflöte zu suchen. Dabei wollte ich unbedingt unbekannte, vergessene und verbotene Komponisten kennenlernen. Ziemlich bald stieß ich auf eine super Quelle in den Niederlanden, die Webseite www.forbiddenmusicregained.org, für die die Leo-Smit-Stiftung und die Flötistin Eleonore Pameijer verantwortlich sind.
Internet Leo Smit war ein begabter jüdischer Komponist, dessen Werke in der Nazizeit nicht aufgeführt werden durften und der nach dem Krieg, wie viele andere, komplett vergessen wurde – bis zur Gründung dieser Stiftung. Stundenlang schmökerte ich im Internet, vertiefte mich immer mehr in die Musik und setzte mich intensiv mit dem Thema auseinander. So lernte ich nun für mein Instrument viele neue Werke und Komponisten kennen.
Im Sommer 2020 habe ich eine Aufnahme in der Musikbrauerei gemacht, die vom Label Donemus veröffentlicht wurde. Wobei viele Stücke überraschenderweise von Komponistinnen wie beispielsweise Rosy Wertheim, Henriette Bosmans und Fanja Chapiro stammen. Die meisten von ihnen sind immer noch unbekannt. Das Ergebnis dieser Recherche erklingt in der Reihe »Living Music 2021«, einem Projekt von »Kol – jüdische Musik beleben und erleben«, bei dem ich mit meinem Klavierpartner Yehuda Inbar auftreten werde. »Spielende Bilder meiner Familie«, so lautet der Titel des Abends.
Denn ich möchte das Schicksal meiner Großtante Betsy Van Wezel vorstellen, die fast ihre ganze Familie in der Schoa verloren hat. Danach hat sie angefangen, ihre Trauer über das Anfertigen von Skulpturen und mithilfe der Malerei zu verarbeiten. Ihre Geschichte verkörpert für mich die Kunst des Erinnerns.
Als ich klein war, besuchte ich Betsy in ihrer Werkstatt in Amsterdam.
Manchmal spielen wir nur einen Satz aus dem Werk, damit es Raum für mehr Stücke gibt und auf diese Weise eine Art Kaleidoskop verschiedener Kompositionen erklingen kann. Eine Biografie hat mich besonders beeindruckt, und zwar die von Marius Flothuis, der Widerstand während der Schoa leistete und Juden versteckte, bis es ihn traf und er ins KZ Vught in Holland deportiert wurde. Später wurde er nach Sachsenhausen verbracht und auf einen Todesmarsch geschickt.
Er hat das alles überlebt. Flothuis hat zwei Werke für die Flöte während seiner Haft geschrieben, die sozusagen am Lagerzaun uraufgeführt wurden. Nach seiner Befreiung berichtete er, dass er seine Werke im Kopf komponiert hatte, und er, sobald ihm ein Blatt Papier in die Hände fiel, die Noten aufgeschrieben hat.
Es ist eine tiefe, schöne Musik und ich finde, zusammen mit seiner Geschichte, erzeugt das Stück Hoffnung. Leo Smit hat 1943 noch angefangen, eine Sonate für Flöte und Klavier zu schreiben. Kurz nachdem er den zweiten von drei Sätzen fertig hatte, wurde er nach Sobibor deportiert und ermordet. Er wurde nur knapp 43 Jahre alt. Was hätte er noch zu sagen gehabt! Welch ein Verlust! Das Programm in Deutschland zu präsentieren, hat eine große Bedeutung für mich.
VERLUST Meine Großtante Betsy musste mit einem sehr großen Verlust fertigwerden: Sie verlor ihre beiden jüngsten Söhne, acht und zehn Jahre alt, und ihren Mann während der Schoa. Ihr ältester Sohn, zwölf Jahre, überlebte. Sie war Künstlerin und hat Skulpturen angefertigt, und mich hat es sehr berührt, dass sie auch ihre Kinder in ihren Bronzefiguren verewigt hat.
Als ich klein war, besuchte ich sie in ihrer Werkstatt in Amsterdam. Ich mochte die Atmosphäre dort sehr und beobachtete sie, wie sie arbeitete. Ihre Werke waren überall bei uns zu Hause.
Ihre drei Kinder waren bei Familien in einem Dorf im Süden der Niederlande versteckt worden. Um sie zu schützen, wurde immer behauptet, dass sie Waisen aus Rotterdam seien. 130 Kinder wurden so insgesamt gerettet. Doch 1944 kooperierte die niederländische Polizei mit den Nazis, sechs Kinder wurden gefangen genommen und vier von ihnen ermordet, darunter auch die beiden jüngsten Kinder von Betsy. Zudem starb ihr Ehemann in Bergen-Belsen. Ihr ganzes Leben war von diesen Traumata geprägt.
Vor ein paar Monaten, fing ich an, einen Film über meine Großtante zu drehen. Dazu interviewte ich meine Mutter, meine Tante und meinen Onkel.
Als ich eine Skulptur von ihr sah, die ein Kind mit einer Flöte darstellte, hat mich diese sehr berührt, und ich wusste, dass ich mich mit diesem Thema auch auseinandersetzen muss. Jetzt, vor ein paar Monaten, fing ich an, einen Film über meine Großtante zu drehen. Dazu interviewte ich meine Mutter, meine Tante und meinen Onkel. Sie gehören zu den wenigen, die sie noch gekannt haben.
Außerdem habe ich Briefe gefunden, die ihre beiden Söhne ihr damals geschrieben haben. Mit diesem Film wird die Geschichte meiner Familie weitergetragen. Wahrscheinlich werde ich den Film auch bei dem Konzert am 13. November zeigen. In fast jeder Familie in den Niederlanden gab es ähnliche Schicksale.
FAMILIE Meine Mutter wurde in Amsterdam geboren, wodurch ich natürlich noch eine stärkere Verbindung zu den Niederlanden habe. Ich kam in Israel als drittes Kind auf die Welt. Mein Vater ist Wissenschaftler, meine Mutter Zahnärztin. Beide haben einen starken Bezug zur Kunst und zur Musik, und es stand für sie fest, dass jedes Kind ein Instrument lernen muss, also für mich das klassische Anfängerinstrument Blockflöte.
In Rehovot, 20 Kilometer von Tel Aviv entfernt, wuchs ich auf. Mit elf Jahren wechselte ich zur Querflöte, es folgte ein Studium an der Jerusalemer Academy of Music und Dance, dann an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover und schließlich am Conservatoire Aulnay-sous-Bois bei Paris. Anschließend ging ich wieder nach Israel zurück und hatte eine feste Stelle bei der Israel Camerata.
Doch vor zehn Jahren zog es mich nach Berlin zurück, denn hier ist die Musikszene wahnsinnig interessant, und ich wollte mich unbedingt weiterentwickeln. Bei vielen namhaften Orchestern habe ich gespielt, doch am meisten spiele ich freiberuflich mit der Kammerakademie Potsdam und dem Münchner Kammerorchester. Durch die Pandemie habe ich erfahren, dass es sinnvoller ist, bei den jeweiligen Besuchen länger in Israel zu bleiben, als ganz oft nur kurz hinzufliegen. Mit meiner Familie bin ich sehr eng verbunden. Und ich habe noch viele Freunde dort.
Jeder Tag ist bei mir anders. Ich stehe meistens gegen sieben Uhr auf und meditiere als Erstes, möglichst bevor unser Mischlingsdackel Emil wach wird. Den haben mein Freund, der Landschaftsarchitekt ist, und ich aus Israel mitgebracht, wo wir ihn von einer arabischen Familie adoptiert haben. Zu Beginn mussten wir immer Arabisch mit ihm sprechen, damit er uns versteht, doch nun klappt auch Hebräisch und auch ein bisschen Deutsch.
Lampenfieber habe ich nicht unbedingt, aber ich spüre Adrenalin.
Häufig spiele ich in Orchesterprojekten, mache Kammermusik oder ich habe eine Probe. Auch organisatorische Sachen muss ich erledigen. Zudem unterrichte ich Flöte an der Johann-Sebastian-Bach-Musikschule in Potsdam, glücklicherweise geht das nun wieder im Präsenzunterricht. Während der Pandemie fanden die Stunden nur online statt.
Glück habe ich auch mit unserer Wohnung, denn ich kann so viel Flöte spielen, wie ich möchte, es stört keinen. Manche freuen sich sogar, mir beim Üben zuzuhören. Flötisten müssen wie Sportler fit bleiben. Unsere Muskeln sind zwar nicht so groß, aber sie müssen in den Lippen und in den Fingern täglich trainiert werden.
MOZART Mit meiner Holzflöte spiele ich Werke von Mozart und dessen Zeitgenossen, denn sie ist mit ihrem sehr warmen und persönlichen Klang sehr gut dafür geeignet. Etwas lauter und brillanter ist hingegen der Klang der Goldflöte. Dann besitze ich noch eine Piccolo-, zwei Travers- und zwei einfache Flöten. Die Goldflöte setze ich bei Kompositionen des 20. und 21. Jahrhunderts ein. Diese sind oft eine besondere Herausforderung und manchmal nahezu unspielbar. Am allerschwersten finde ich aber die Konzerte von Mozart. Tausendmal habe ich sie schon gespielt und entdecke immer wieder etwas Neues.
Ich habe aktuell weitere spannende musikalische Projekte auf die Beine gestellt, die nächsten Monate versprechen sehr abwechslungsreich zu werden. Interessierte Gemeinden können über das Kulturprogramm des Zentralrats der Juden das musikalische Erinnerungsprojekt zusammen mit meinem Klavierpartner und mir für das nächste Jahr buchen.
Worauf ich mich besonders freue, ist, dass wir Musiker nun wieder Live-Konzerte geben können und sogar mit dem Programm »Neustart Kultur« gefördert werden. Wenn ich auf der Bühne stehe, dann möchte ich mit dem Publikum zusammen sein. Lampenfieber habe ich nicht unbedingt, aber ich spüre Adrenalin. Jeder möchte in seinem Leben Dinge machen, die Sinn bringen. Und für mich ist das, Musik lebendig werden zu lassen.
Aufgezeichnet von Christine Schmitt