Oldenburg

Mitten in der Stadt

Die Musik beim 30-jährigen Jubiläum der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg sagte am vergangenen Sonntag einiges über das jung gebliebene Selbstverständnis aus: Nicht ein Musikstück des Festprogramms war älter als aus dem 20. Jahrhundert – bei Feierlichkeiten wie diesen ist das nicht unbedingt die Regel.

Und noch etwas anderes fiel auf, das möglicherweise auf ebenjenes Selbstbild schließen lässt: Nicht überregionale Prominenz wurde für die Festrede verpflichtet, sondern der junge Assistenzrabbiner Netanel Olhoeft aus den eigenen Reihen. In einem klugen wie unterhaltsamen Vortrag erinnerte Olhoeft an die Bedeutung der Zeit und des Prozesshaften für die Praxis der Gemeinde sowie an die Funktion der Torarolle als integratives Zentrum eines vielstimmigen und vielfältigen Gemeindelebens.

Mit 30 befinde man sich im Lebensabschnitt der Kraft und Stärke.

Gegenwart Dass schließlich die neue Torarolle, die im Rahmen des Festakts feierlich in das helle Lehr-, Gemeinde- und Gebetshaus im Oldenburger Stadtzentrum eingebracht wurde, ihren Weg nach Norddeutschland um ein Haar nicht rechtzeitig gefunden hätte, zeigt wiederum auf das hohe Maß an Gegenwart, mit dem jüdische Gemeinden konfrontiert sind: Bereits vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine sei die neue Torarolle in Auftrag gegeben worden, berichtet die Vorsitzende der Gemeinde, Elisabeth Schlesinger. Man sei sich nicht sicher gewesen, ob es mit der Lieferung tatsächlich würde klappen können.

Ukraine Schließlich hat die radikale Änderung der geopolitischen Umstände seit Februar 2022 nicht nur den Transport dieser Rolle zu einer abenteuerlichen Unternehmung gemacht. Seit März 2022 betreut die Jüdische Gemeinde in enger Zusammenarbeit mit der Stadt Oldenburg etwa 60 jüdische und nichtjüdische Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine, zumeist Frauen mit ihren Kindern.

Stadtgesellschaft 30 Jahre, darauf wies Rabbinerin Alina Treiger in ihrem Grußwort hin, seien angesichts von 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland keine große Zeitspanne – in den Biografien einzelner Menschen aber viel mehr als bloß ein kurzer Lebensabschnitt. Die Gemeinde danke »für das uns entgegengebrachte Vertrauen«, formulierte Schlesinger in ihrer Begrüßung gewissermaßen den Kern der Entwicklung der Gemeinde, die sich auch an der breit gefächert in die Oldenburger Stadtgesellschaft hineinreichende Zahl der Jubiläumsgäste ablesen ließ. »So viele Freunde hier zu haben«, sagte Treiger, »ist Zeichen der Anerkennung und der Wertschätzung.« Die Gegenseitigkeit und Gemeinschaftlichkeit sei in den nun gefeierten 30 Jahren seit der Wiedergründung gewachsen. Oldenburgs Oberbürgermeister Jürgen Krogmann (SPD) betonte dann auch den Beitrag der Jüdischen Gemeinde, Oldenburg »als vitales Element der Stadtgesellschaft« kontinuierlich als »Willkommensstadt« zu gestalten.

Zuhause »In unserer Gemeinde sind viele, die durch Flucht und Vertreibung nach Oldenburg gekommen sind«, sagte Rabbinerin Treiger. Die Gemeinde verstehe sich als »neues Zuhause«. Das bedeute für die Gemeinde, mit viel Empathie und Aufmerksamkeit zu schauen, wo und wie Hilfe und Unterstützung anzubieten seien. »Wir haben gelernt«, sagte Treiger, »dass jeder seinen Platz in der Gemeinde braucht.« Was wiederum mit jenem Selbstverständnis zu tun hat, das die Jüdische Gemeinde in den vergangenen 30 Jahren offenbar auch getragen hat, in dem sie sich hat entwickeln können. Mit 30 befinde man sich im Lebensabschnitt der Kraft und Stärke, sagte Treiger, die die Gemeinde seit 2011 als erste in Deutschland ordinierte Rabbinerin betreut.

Dass die Gemeinde von (Neu)Beginn an auf ausgeprägte Laienarbeit, auf die gleichberechtigten Gestaltungsmöglichkeiten von Männern und Frauen in den Gottesdiensten setzte, auch dass sie das Wachsen der Gemeinde – den Zuzug sogenannter Kontingentflüchtlinge Anfang der 1990er-Jahre wie aktuell aus der Ukraine – dezidiert»als Chance versteht«, ermöglicht einen selbstbewussten Umgang mit verschiedenen rabbinischen Ausrichtungen innerhalb des Teams.

Torarolle Zu diesem gehören neben Treiger auch Festredner Netanel Olhoeft und die vor Kurzem aus Odessa nach Oldenburg gekommene Rabbinerin Julia Gris. Die liberale Rabbinerin begleitete den Baldachin mit der neuen Torarolle mit besonders viel Herz in der Stimme durch die kleinen Straßen hinter dem Kulturzentrum PFL, in dem der Festakt stattfand, einem ehemaligen Hospital, zu dessen früheren Nebengebäuden auch jenes Haus gehört, in dem Gemeinde und Synagoge heute untergebracht sind. Getragen wurde die Torarolle von einer Vielzahl verschiedener, oft auch junger Gemeindemitglieder.

Im Gebetsraum setzte der Sofer die letzten 26 Buchstaben auf das Pergament. Und ehrte so zugleich 26 Menschen mit sehr verschiedenen Lebenswegen und Talenten, Funktionen und Fähigkeiten, die für das Gemeindeleben in den vergangenen 30 Jahren wichtig waren. Hier wurde gewissermaßen direkt vor Augen geführt, was Rabbiner Olhoeft in seiner Festrede über die permanente Vergegenwärtigung der Tora gesagt hatte.

Dass in jedem Tempel auch ein Abbild der zerstörten Tempel stecke, die Synagoge also zugleich als Ort und als Zeichen zu verstehen sei. Und dass ein Wiederaufbau auch ein Prozess sei, der Zeit in Anspruch nehme. So schöpfte Olhoeft Hoffnung, Zuversicht und auch Freude aus einer Geschichte des Rabbi Akiba, der zufolge gerade dann, wenn katastrophale Prophezeiungen sich bewahrheiten, der Glaube an das Eintreffen hoffnungsvoller Prophezeiungen gestärkt würde.

Generation Der Präsident des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden von Niedersachsen, Michael Fürst, überbrachte ein Geschenk von 1000 Euro für die Jugendarbeit der Gemeinde, und Mark Dainow würdigte für den Zentralrat der Juden die Beharrlichkeit der Gründergeneration der (Wieder-)Gründerinnen und -gründer. So bildete der Festtag auch präzise wie beispielhaft ab, in welchen gesellschaftlichen Gemengelagen die Arbeit einer jüdischen Gemeinde heute stattfindet. Als nicht allein religiöse, sondern auch als gesellschaftliche Einrichtung. Und als kulturelle.

Michael Fürst überbrachte ein Geschenk für die Jugendarbeit.

Das musikalische Highlight war ein von der Kantorin und Sopranistin vorgetragener Ausschnitt aus einem Liederzyklus nach Texten von Hilde Domin. Komponiert von Sarah Nemtsov, die nicht nur zu den Stars der gegenwärtigen Neue-Musik-Szene gehört, sondern deren Jugend sowohl religiös wie auch musikalisch eng mit der Gemeinde verbunden ist.

Nemtsov war fast ein Teenager, als die Gemeinde, unter anderem von ihrer Mutter, der Malerin Elisabeth Naomi Reuter, gegründet wurde. Heute steht die Musikerin mitten im Leben – wie auch die Gemeinde selbst.

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