Ein Mammutprogramm ist am Sonntag in Leipzig gestartet: Die Jüdische Woche mit mehr als 120 Veranstaltungen von über 60 Akteuren dauert noch bis zum 4. Juli an.
Charmant-familiär eröffnete Oberbürgermeister Burkhard Jung am Sonntag die 14. Woche der jüdischen Kultur. Jung begrüßte nicht nur den Vorsitzenden der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, Küf Kaufmann, und den »frischgebackenen Militärbundesrabbiner« mit »lieber Küf, lieber Zsolt«, sondern forderte auch alle handverlesenen Ehrengäste, unter ihnen der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Abraham Lehrer, auf: »Ziehen Sie sich die Jacken aus.«
Das Publikum saß vor der Sonne geschützt zwar unter großen Zeltdächern, die Ehrengäste aber unter freiem Himmel auf dem Augustusplatz, im Herzen Leipzigs. »Mitten in der Gesellschaft«, im Herzen Leipzigs, befindet sich auch die jüdische Gemeinschaft, betonte der Oberbürgermeister. Eingebettet in das Jahresmotto »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« wolle man jüdisches Leben auch inmitten der Gesellschaft begehen.
Messestadt So alt wie jüdisches Leben in Deutschland sei das jüdische Leben in Leipzig nicht, aber doch immerhin rund 700 Jahre, betonte Jung und sprach über dessen Entwicklung in der Messestadt. »Wir tun gut daran, Weltoffenheit und Toleranz zu zeigen. Jüdisches Leben gehört in die Mitte der Stadt«, sagte Jung. »700 Jahre lang haben sich Juden um Kunst und Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft verdient gemacht. Die Stadt hat Juden viel zu verdanken.«
»Wir sind ausgehungert nach Kunst, Kultur und menschlicher Begegnung.«
Vizepräsident Abraham Lehrer
Das Ariowitsch-Haus sei auch in diesem Jahr wieder Herzstück der rund 120 Veranstaltungen der Jüdischen Woche. »2021 ist anders, Covid lässt grüßen«, und doch freue man sich über viele Live-Begegnungen, aber auch digitale Angebote.
»Begegnungen in Fleisch und Blut« war auch das Stichwort für Zentralratsvize Abraham Lehrer. Er begrüßte neben dem OB, dem Militärbundesrabbiner, Vertretern von Kirchen, Bund, Land und Kommune auch die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley, die zufällig vorbeigekommen war und es sich nicht nehmen ließ, an der Eröffnung unter freiem Himmel teilzunehmen.
»Man ist geradezu ausgehungert nach Musik, Kunst, Kultur und menschlicher Begegnung«, sagte Lehrer, der sich sichtlich freute, ein so »großartiges Programm« der 14. Woche der jüdischen Kultur mit zu eröffnen. »Gemeinsam diskutieren, lachen, weinen und musizieren«, das mache Begegnung aus und sei eine gute Antwort auf Judenhass. Im Sinne des Vereins »321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«, zu dessen Gründern er gehört, forderte er auf: »Blicken wir doch heute auf das Positive, dann werden wir nicht denen das Feld überlassen, die es durch Hass und Zwietracht zerstören wollen.«
Widerstand Die Gesellschaft sei dann widerstandsfähig, wenn jeder und jede bereit sei, für das Ganze einzustehen, aufzustehen, laut zu sein und zu widersprechen, wenn menschenfeindliche Hetzer versuchen, zu spalten und Hass und Hetze in das Internet und von dort auf die Straße zu tragen.
Der zu Beginn gehörte »Gefangenenchor« aus der Oper Nabucco sei für ihn nicht nur Ausdruck von Leid und Gefangenschaft, sondern stehe für den »Willen zur Freiheit, den Willen zu Geist, den Willen zum Glauben, den Willen zum Leben«, sagte Gemeindevorsitzender Küf Kaufmann.
In der letzten Zeit werde er immer wieder gefragt, ob die jüdische Gemeinschaft in Leipzig Angst vor Antisemitismus habe. »Ja«, antwortet Kaufmann auf diese Frage, »ich fürchte für unsere Gesellschaft.« Die Jüdische Woche sei nicht nur ein Blick zurück, sondern auch in die Zukunft. »Lasst uns fröhliche Musik hören«, forderte er alle auf. Zum Abschluss der Eröffnung begeisterte »Ginzburg Dynastie – Jiddish Swing Orchestra« und animierte die Gäste zum Mitklatschen.
Gespräch Am Abend des Eröffnungstages war Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, auf dem Mediencampus Villa Ida zu Gast bei den »Leipziger Gesprächen«. Moderiert wurde die Gesprächsrunde von dem Journalisten und Moderator von MDR Kultur, Thomas Bille.
Die Leipziger Gespräche finden seit 1994 regelmäßig als gemeinsame Veranstaltung der Sparkasse Leipzig und der Volkshochschule statt. Prominente Vertreter aus Politik, Kultur und Gesellschaft stellen sich darin kritischen Fragen. Der erste Gast war 1994 Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Seitdem folgten mehr als 100 Gesprächspartner der Einladung.
Nach längerer Corona-Pause war die Veranstaltung mit dem Zentralratspräsidenten das erste Gespräch, an dem vor Ort wieder Zuhörer teilnehmen konnten – allerdings coronabedingt limitiert, sodass viele Interessierte auf den Livestream ausweichen mussten.
Wie bei diesem Treffen üblich, durfte sich auch Schuster auf der berühmten Wand der Leipziger Gespräche hinter dem Podium mit seiner Signatur verewigen. Eigentlich, so Moderator Bille in seiner Begrüßung, hätten ja das Festjahr zu »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« sowie die »Woche der jüdischen Kultur Leipzig« zwei schöne Anlässe zum Austausch über jüdisches Leben gestern und heute geliefert, wäre da nicht die blutige Attacke am Freitag in Würzburg gewesen. Ein 24-jähriger Mann aus Somalia ermordete dabei drei Frauen mit einem Messer und verletzte weitere Menschen teils schwer.
Schuster hatte an der Gedenkfeier für die Würzburger Opfer teilgenommen.
Und das in einer Stadt und in einer Region, mit der Schuster eng verbunden ist. Gemeinsam mit Vertretern aus Politik und Zivilgesellschaft hatte er am Sonntagnachmittag an der Gedenkzeremonie für die Ermordeten im Würzburger Dom St. Kilian teilgenommen. Wie gehe er mit einer solchen Tat um, fragte Thomas Bille. »Die Überlegungen, mit denen ich damit umgehe, sind bei allem Negativen das Positive, dass es couragierte Bürger gab, die den Täter verfolgt und auch in die Enge getrieben haben«, lautete Schusters Antwort.
Migrationshintergrund Und unter denjenigen, die sich dem bewaffneten Angreifer in den Weg gestellt haben, seien Menschen mit Migrationshintergrund gewesen. Zum Glück habe das politische rechte Lager diesen Vorgang nicht für sich ausgenutzt, das sei seine Sorge gewesen, sagte Schuster. Stattdessen sei die Würzburger Stadtgesellschaft durch das Geschehen noch enger zusammengewachsen.
»Seit Freitag hängen dunkle Wolken über der Stadt«, viele Menschen seien wegen des blutigen Angriffs bedrückt. »Auf der anderen Seite muss das Leben weitergehen«, betonte Schuster. Insgesamt habe man es verstanden, zwischen dem vermutlich islamistisch motivierten und psychisch auffälligen Einzeltäter und der migrantischen Community als Ganzes zu differenzieren.
Als 2015 viele Migranten aus Syrien und anderen muslimischen Staaten nach Deutschland kamen, hatte Schuster seine Sorge vor einem Anwachsen des Antisemitismus hierzulande geäußert. Die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre haben ihn beruhigen können, sagte Schuster. So sei es etwa gelungen, das Thema Antisemitismusprävention in den Integrationskursen aufzugreifen. Dennoch zeige sich der Hass auf Juden und Israel heute im Vergleich zu den vergangenen Jahren in einer neuen Dimension – etwa an den Schulen. »Wenn es in der Klasse zu einem antisemitischen Vorfall kommt, sind die Lehrer in keiner Weise darauf vorbereitet«, kritisierte Schuster. In puncto Aus- und Fortbildung der Pädagogen müsse sich noch einiges tun. Der Kampf gegen Antisemitismus sei eine Aufgabe, die die ganze Gesellschaft angehe.