Es war ein besonderer Kabbalat Schabbat, zu dem die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) am Freitag vergangener Woche in den Hubert-Burda-Saal eingeladen hatte. Rund 160 Menschen aus der Ukraine waren gekommen, einige von ihnen hatten erst wenige Stunden vorher München erreicht.
Die Tische waren festlich eingedeckt, Challot und Traubensaft zum Kiddusch standen bereit, ebenso an einem eigenen Tisch viele Kerzen, damit die Frauen sie zum Schabbat entzünden konnten.
Noch vor Beginn der Feier ging IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch von Tisch zu Tisch, versicherte den Kriegsflüchtlingen jedwede mögliche Hilfe durch die Kultusgemeinde. Die Neuankömmlinge sprachen zum größten Teil Englisch und Deutsch, sodass eine Verständigung weitgehend unproblematisch war. So konnte Charlotte Knobloch auch jedem Einzelnen gegenüber ihre Anteilnahme zum Ausdruck bringen. »Wir wissen nicht, wie Ihre Zukunft aussieht. Sicher ist aber, dass wir Sie unterstützen. Jeder bekommt Hilfe, um seine Probleme zu lösen«, versicherte sie.
kriegserinnerungen In ihrer kurzen Ansprache betonte sie anschließend: »Wir wissen, dass nichts hier in München Ihnen wiedergeben kann, was Sie in den vergangenen zwei Wochen verloren haben. Wir können nur lindern, nicht lösen.« Es breche ihr – wie so vielen anderen Menschen – das Herz, wenn sie die schrecklichen Bilder aus der Ukraine sehe, aus einem Land, das Opfer eines brutalen Angriffskrieges ist. »Ich hätte mir nicht vorstellen können«, sagte sie mit Blick auf ihre eigenen Kriegserinnerungen als Kind, »dass wir so etwas noch einmal erleben müssen. Es ist barbarisch.«
Sie dankte all den Helfern und Abteilungen, die an der Unterstützung mitwirken. Ganz besonders hob sie dabei die Sozialabteilung unter der Leitung von Olga Albrandt hervor, »die schon in den vergangenen zwei Wochen unermüdlich gearbeitet hat, um in der Stunde der Not jetzt helfen zu können«. Bevor Charlotte Knobloch das Wort dann an Rabbiner Shmuel Aharon Brodman übergab, versicherte sie den Neuankömmlingen: »Sie sollen wissen: Das, was wir für Sie tun können, das werden wir auch leisten. Wir setzen alle Ressourcen unserer Gemeinde in Bewegung, damit Sie hier ankommen können.«
Der Gemeinderabbiner äußerte sein Mitgefühl für die Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Viele der Anwesenden folgten ihm dann zum Freitagabend-Gottesdienst in die Ohel-Jakob-Synagoge. Auch am darauffolgenden Schabbat waren einige Familien in die Synagoge gekommen.
Bei der Begrüßung der Neuankömmlinge waren nahezu alle Mitglieder des Gemeindevorstands anwesend, unter ihnen auch Ariel Kligman, der vor drei Jahrzehnten selbst als sogenannter Kontingentflüchtling aus Kiew nach München gekommen war. Er erzählte von seinen Erfahrungen und unterstrich den Einsatz der Kultusgemeinde für die Kriegsflüchtlinge.
hilfsaktionen Um die Hilfsaktionen optimal koordinieren zu können, wurden Listen angelegt, in denen die Daten der Geflüchteten aufgenommen wurden. An verschiedenen Tischen stellten sich die einzelnen Organisationen vor, in kyrillischer Schrift hatten sie auf ihre jeweilige Tätigkeit hingewiesen. Der russischsprachige Rabbiner Avigdor Bergauz und seine Frau Sara standen wie viele andere Vertreter aus der Gemeinde und von Organisationen für Fragen und Auskünfte bereit.
Im Foyer waren Bücher und Spiele zum Mitnehmen ausgelegt, auch im Burda-Saal gab es einige kleine Geschenke. Besonders die Lollis fanden bei den Kindern großen Anklang. Das Restaurant »Einstein« hatte ein reichhaltiges Buffet mit Vorspeisen, Salaten, warmen Hauptgerichten und einem Nachtisch vorbereitet.
Restaurantleiter Sven Tweer und seinem Team war es trotz des großen Termindrucks gelungen, ein äußerst ansprechendes Schabbatessen zu zaubern. Und es schmeckte nicht nur, sondern war für viele zudem eine lang vermisste Mahlzeit.
neuankömmlinge Die Gesichter der Neuankömmlinge waren ernst, angespannt, müde. Die Sorgen über die eigene ungewisse Zukunft und der Gedanke an das Schicksal der in der Ukraine Zurückgebliebenen waren zu spüren. Die starken Bombardierungen erwähnten viele der Geflüchteten immer wieder – ohne Details, aber sichtlich belastet.
Sorgen über die eigene Zukunft und der Gedanke an die Zurückgebliebenen waren überall spürbar.
Die Kriegsflüchtlinge waren auf unterschiedlichen Wegen nach München gekommen, zu unterschiedlichen Zeiten. Natalia und Alexander konnten bereits am Angriffstag, am 24. Februar, mit ihrer siebenjährigen Tochter Eliana aus Kiew fliehen. Oberrabbiner Yaakov Dov Bleich hatte sie und andere Gemeindemitglieder wenige Stunden nach dem Angriff angerufen. Er hatte einen Bustransfer organisiert.
Dann ging es über Bulgarien, die Republik Moldau, Rumänien und Ungarn nach München. In Ungarn durchlebte die junge Mutter noch einmal einige Schreckminuten: Ihr Pass war abgelaufen – doch sie erhielt eine Bestätigung, mit der sie nach Deutschland einreisen konnte, verbunden mit der Aufforderung, hier einen neuen Pass zu beantragen.
In München kam sie am Freitagmorgen gegen 3 Uhr an und wurde gemeinsam mit ihrer Tochter in einem Hotel in der Innenstadt untergebracht, ebenso wie andere ihrer Mitreisenden, unter ihnen Valeriy mit seiner Frau und ein junger Mann aus Odessa, dessen Frau und kleiner Sohn noch im bulgarischen Varna sind. Sein Vater und seine Großmutter hingegen seien noch in der ukrainischen Hafenstadt, erzählt er. Nun hofft er, dass auch ihnen die Flucht gelingt.
unterbringung Während viele der Geflüchteten in Hotels untergebracht werden konnten, wohnen einige auch bei Verwandten, die schon längere Zeit in München leben, so beispielsweise Katharina. Die junge Studentin hatte einen Tag nach dem Angriff ihren 17. Geburtstag. Sie ist jetzt bei ihrer Großmutter, die bereits vor 17 Jahren nach München gekommen ist. Katharina will erst einmal ihre Deutschkenntnisse verbessern und hofft, danach ihr Studium hier fortsetzen zu können.
Auch der Informatiker und IT-Entwickler Viktor ist gemeinsam mit seiner Frau über Polen zu seiner Familie nach München gekommen. Die Schwester arbeitet seit Langem als Krankenschwester in der bayerischen Landeshauptstadt und pflegt gleichzeitig die kranke Mutter. Da diese Pflege immer intensiver wird, können der Bruder und ihre Schwägerin sie nun dabei unterstützen.
Selbst bei Menschen wie Katharina und Viktor, die für die nahe Zukunft eine Perspektive haben, blickt man in ernste und nachdenkliche Gesichter. Eine Ausnahme bilden die Kinder. Bei der Organisation des Kabbalat Schabbat wurde ein eigener Raum für die Kleinen eingerichtet, in dem sie von geschulten Betreuern mit Spielen und Bastelangeboten unterhalten wurden. So konnten sie wenigstens für ein paar Stunden die Eindrücke der zurückliegenden Tage vergessen.
ablenkung Die kleine Eliana tauchte begeistert mit ihrem neuen Luftballonhund bei ihren Eltern Natalia und Alexander auf – doch nicht einmal diese offensichtliche Freude konnte ihrer Mutter ein Lächeln entlocken. Gleichwohl ist sie dankbar für die Ablenkung der Tochter, auch wenn sie das nur zeigen konnte, indem sie die Zeichnung der Siebenjährigen sorgsam zu ihren Dokumenten in die Tasche steckte.
Wie geht es nun weiter? Die deutsche Sprache muss erlernt, eine berufliche Tätigkeit gefunden werden. Der junge Mann aus Odessa ist Navigationsoffizier. Ein Seemann in München? Er ist dennoch optimistisch: »Ich starte in ein neues Leben. Mal sehen, was es bringt!«