Kannst du dich kurz vorstellen?
Mein Name ist Meira. Ich bin 17 Jahre alt, gebürtige Osnabrückerin und lebe nach wie vor in Osnabrück. Ich gehe jetzt in die zwölfte Klasse. Nach dem Abi möchte ich dann Erzieherin werden. Ich bin ein religiöses jüdisches Mädchen, das vielfältige Interessen an Kinder- und Jugendarbeit und an Fotografie hat. Da ich ein reflektierter Mensch bin, kann ich ehrlich sagen, dass ich sowohl Schwächen als auch Stärken habe. Ich bin sehr meinungsstark, kann mich gut ausdrücken und gut improvisieren. In den Bereichen, wo ich mich öffentlich präsentieren und spontan reagieren muss, arbeite ich sehr viel. Ich mag das auch sehr gern, mich auf die Sprache zu fokussieren und durch Worte eine wichtige Message rüber zu bringen. Da ich sehr gerne organisiere, engagiere ich mich in der Kinder- und Jugendarbeit. Das ist eine Leidenschaft von mir. Ich hatte schon immer Interesse daran, mit Kindern verschiedener Altersgruppen zu arbeiten. Das umfasst Babysitting genauso wie das Organisieren von Seminaren und Sommercamps für die Jugendlichen in unserem jüdischen Jugendzentrum. Ich brenne immer total für Spaß- und Lernprogramme. Kinder sind unsere Zukunft. Mir ist es ein Anliegen, dass man Kinder unterstützt, und dass man ihnen die Möglichkeit gibt, ihre Zukunft so gut wie es geht zu gestalten. Viele Kinder werden darin von zu Hause aus nicht so gut unterstützt. Deswegen investiere ich meine Kraft, jedem Kind individuell die besten Chancen zu eröffnen.
In welchen Projekten bist du aktiv?
Bei verschiedenen Organisationen helfe ich bei Kinder- und Jugendprogrammen mit. Eine der Organisationen heißt JCommunity, das ist ein Programm der Ronald S. Lauder Foundation. Dort trifft man sich mit Jugendlichen bei Sommercamps oder an Wochenenden. Beim Bund traditioneller Juden1 mache ich auch immer als Betreuerin mit und seit Neuestem bei ZWST2. Daneben engagiere ich mich in der »Aufklärungsarbeit« über das Judentum. Für mich ist es dabei immer wichtig, einerseits über das Judentum aufzuklären, aber auch im Allgemeinen gegen Hass und Diskriminierung zu sprechen. In diesem Kontext mache ich zum Beispiel bei »Meet a Jew« oder bei privat organisierten Events mit. Inzwischen melden sich auch immer wieder interessierte Personen bei mir und fragen bei mir wegen Interviews oder Vorträgen an.
Wie kam es, dass du dich entschieden hast, aktiv deinen Glauben, das Judentum zu leben?
Das Judentum prägt meinen Alltag und ist ein ständiger Begleiter für mich. Das Judentum war für mich ein Schatz, den ich sozusagen gefunden habe. Ich bin in einer nichtreligiösen Familie aufgewachsen und hatte sehr lange gar nichts mit dem Judentum am Hut. Meine Eltern kommen beide aus der ehemaligen Sowjetunion. Mein Papa kommt aus Russland und meine Mama aus der Ukra ine. Sie sind beide 1995 nach Deutschland gekommen. Sie haben sich hier in Deutschland kennengelernt und relativ früh eine gemeinsame Zukunft aufgebaut. Aber Religion war bei ihnen nie ein Thema. Mir war gar nicht bewusst, dass ich jüdisch bin. Bis meine Eltern wollten, dass ich am Tanzwettbewerb des Zentralrats der Juden »Jewrovision«4 teilnehme. So bin ich in unser jüdisches Jugendzentrum gekommen. Es ging einfach nur darum, mich auf eine große Bühne zu bringen. Danach habe ich mich gefragt: »Okay, der Wettbewerb ist jetzt vorbei. Was mache ich jetzt an meinen Sonntagen? Gehe ich jetzt weiter ins Jugendzentrum oder nicht?« Ich mag es nicht, mich auf meiner eigenen Faulheit auszuruhen. Ich zwinge mich immer selbst dazu, über mich hinaus zu wachsen. Deswegen entschied ich mich für das jüdische Jugendzentrum. Irgendwann habe ich gemerkt: »Okay, ich glaube, das Judentum ist das Richtige. Das ist für mich der Sinn des Lebens, die richtige Art und Weise, durch das Leben zu schreiten.« Seitdem ist es ein fortlaufender Prozess. Es gibt immer mal wieder Tiefpunkte, aber das Judentum gibt mir sehr viel Kraft. Im Endeffekt weist mir das Judentum in jeder Situation einen Weg, der mich wieder auf die richtige Bahn bringt. Eigentlich heiße ich Klea. Zu meiner Bat Mitzwa habe ich meinen jüdischen Namen Meira Esther angenommen. Den Namen Meira konnte ich mir tatsächlich selber aussuchen. Es bedeutet Licht. Später hat es sich herausgestellt, dass meine Urururoma auch Meira hieß. Esther wurde mir als Name gegeben, weil ich an einem jüdischen Feiertag, Purim, geboren bin, wo die Heldin des Feiertags Esther ist. Seit Sommer letzten Jahres, also seit 2019, steht es auch so in meinem Ausweis.
Wie ist es für dich, als religiöse Jüdin auf eine Schule zu gehen, wo die meisten nicht jüdisch sind?
Es ist viel normaler, als man erwartet. In meiner eigenen Klasse habe ich letztes Jahr eine »Meet a Jew«-Begegnung organisiert. Die Hälfte der Klasse hat an diesem Tag zum ersten Mal bemerkt, dass ich noch nie eine Hose getragen habe. Das ist ihnen einfach nicht aufgefallen, weil das so normal ist und überhaupt keine Rolle spielt. Wenn es Überschneidungen von Feiertagen mit Klausuren gibt, dann sind das Probleme, die ich lösen muss. Meine Klasse bekommt davon nichts mit. Im Freundeskreis muss man gucken, wie man sich verabredet, ob und wie man auf Partys gehen kann. Die Lehrer sind alle sehr, sehr tolerant und immer eine große Unterstützung. In Osnabrück haben wir den großen Segen, dass es eine sehr tolerante Stadt ist. Antisemitismus ist hier nahezu gar kein Problem. Wir können uns hier sehr glücklich schätzen.
Was bedeutet es für dich, deutsch zu sein?
Ich bin da sehr pragmatisch. Deutsch sein bedeutet für mich, eine deutsche Staatsbürgerschaft zu haben und in Deutschland zu leben. Meiner Meinung nach kann deutsch sein ein Teil der Identität sein, muss es aber nicht. Für mich persönlich ist es kein Teil meiner Identität, weil meine Identität nicht ortsgebunden ist. Ein Zuhause kann für mich überall sein, solange dort die Menschen sind, die ich liebe.
Wie empfindest du das Miteinander zwischen Juden und Muslimen in Deutschland?
Im ersten Moment scheint diese Beziehung eher negativ geprägt zu sein. Es wird oft behauptet, dass es keinen Dialog zwischen Juden und Muslimen geben kann. Muslime hassen Juden, Juden hassen Muslime. Aber rein praktisch habe ich das nie so erlebt. Im Gegenteil, wenn man eine offene Persönlichkeit vor sich stehen hat, die einer anderen Religion angehört, findet man durch die Religionen so viele Gemeinsamkeiten. Man kann tolle spirituelle Gespräche führen. Dinge, die den Alltag von religiösen Muslimen begleiten, finden sich auch im Judentum wieder. Es gibt mit Sicherheit viele Bereiche, wo es Konflikte im Dialog gibt. Aber genau dafür gibt es solche Projekte wie »Schalom Aleikum«, die dem entgegenwirken sollen.
Was meinst du genau damit?
Ich finde persönliches Engagement wie in diesen Projekten »Meet a Jew« und »Schalom Aleikum« wichtig. Es geht darum, einen Dialog auf Augenhöhe zu führen und dass man sich nicht über andere stellt. Wir müssen jedem Menschen mit Würde und Respekt gegenübertreten und klarmachen: »Ich wünsche mir, dass du mich auch respektierst. Lass uns mal plaudern und schauen, was du schon weißt, oder wo du ein Problem hast.« Man muss offen dafür sein, die anderen Menschen um sich herum zu bereichern, aber auch bereichert zu werden.
Wo siehst du dich selbst in zehn Jahren?
In zehn Jahren bin ich 27. Ich hoffe sehr, dass ich in zehn Jahren verheiratet sein werde mit der Person, die ich von ganzem Herzen lieben werde, und dass wir in zehn Jahren bereits eine Familie gegrün det haben. Hoffentlich bin ich bis dahin auch erfolgreiche Erzieherin. Ich versuche, mich nicht allzu sehr in diesen Zukunftsvorstellungen zu verhaken, weil ich einfach offen bleiben möchte. Ich sage auch immer: »Heimat ist für mich kein Ort, sondern eine Beziehung zu einer Person.« Das heißt, wenn ich dann heirate, werden wir gemeinsam entscheiden, wo wir wohnen, ob das in Deutschland ist oder woanders. Ich bin gespannt, was die Zukunft mir bieten wird, und ich vertraue auch darauf, dass sich alles zum Besten wenden wird.
Das Interview ist eine gekürzte Version aus dem Buch »Gehört werden – jüdische und muslimische junge Erwachsene im Gespräch«, Hentrich & Hentrich, Leipzig 2020, 84 S., 12,90 €