Rabbiner-Brandt-Vorlesung

Mit Snapchat und Facebook

Mit Berlin und München kann Hanau nicht wirklich mithalten. Trotzdem hat auch diese hessische Stadt ein paar Vorzüge: Sie ist gut erreichbar und nahe bei Frankfurt. Und sie pflegt die Erinnerung an die Schoa.

Das sind Gründe, die den Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften (DKG) für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit dazu bewogen, die Rabbiner-Brandt-Vorlesung in diesem Jahr in Hanau auszurichten. »Es ehrt uns sehr, dass Hanau ausgewählt wurde«, sagte Oberbürgermeister Claus Kaminsky bei der Begrüßung der etwa 140 Gäste, die am Montagabend der Einladung der DKG ins Comoedienhaus Wilhelmsbad gefolgt waren.

In diesem Jahr hat der Koordinierungsrat Josef Schuster als Redner eingeladen. Für den Präsidenten des Zentralrats der Juden ist es nach eigenem Bekunden der erste Besuch in Hanau – und trotzdem so etwas wie »back to the roots«. Er erzählte dem Publikum, warum das so ist: Seine Familie großväterlicherseits stamme aus dem nahe gelegenen Schlüchtern.

Die Wahl des Veranstaltungsortes scheint den Gastredner verwundert zu haben. So merkt er zu Beginn seiner Rede an, dass sein Vortragsthema nicht so passend für den Veranstaltungsort sei. »Lustig, komödiantisch wird es nicht werden«, kündigt Schuster an. »Erinnern ohne Zeugen – über die Zukunft der Gedenkkultur« hat Schuster seinen Vortrag betitelt.

Gratulation Bevor er sich seinem eigentlichen Thema widmet, holt er nach, was er aufgrund anderer Verpflichtungen im September nicht habe machen können: Rabbiner Brandt zum 90. Geburtstag persönlich zu gratulieren und ihm Glück- und Segenswünsche im Namen des Zentralrats zu übermitteln.

Schuster spricht nach einer Bestandsaufnahme unter anderem die Frage an, wie die Erinnerung an die Schoa in einer Gesellschaft wachgehalten werden kann, die der Konfrontation mit der Schande überdrüssig ist, in der immer mehr Menschen leben, die von ihrer Familiengeschichte her so viel mit der Schoa zu tun hätten, wie er »mit der Ausrottung der Indianer in Amerika«.

Nicht nur die immer kleiner werdende Zahl der Zeitzeugen erfordere es, über neue Formen der Gedenkkultur nachzudenken. Bestehende wie die Zeitzeugengespräche, »die mitunter bei Historikern und Zeitzeugen umstritten« seien, stellt Schuster selbst nicht infrage. Er betont, dass Zeitzeugen das schaffen könnten, was »kein Geschichtsbuch leisten« könne, nämlich Empathie zu erzeugen.

Populismus
Die Erinnerungspolitik sollte nicht von kurzfristigen Stimmungswechseln abhängig gemacht werden, schon gar nicht von populistischen Forderungen. Schuster weist aber darauf hin, dass die Gedenkkultur sich nicht »völlig losgelöst von gesellschaftlichen Veränderungen entwickeln« könne. Eine Herausforderung sei es, Erinnerungen wachzuhalten in einer Gesellschaft, in der es immer weniger Menschen mit familiärem Bezug zur Geschichte dieses Landes gebe. Gerade junge Menschen reagierten »allergisch«, wenn von ihnen Betroffenheit erwartet werde. Sie verstünden nicht, warum sie Empathie aufbringen sollten, wenn schon ihre Eltern und Großeltern offenbar keine innere Beziehung zur Schoa hätten.

Die veränderten Parameter machten es 70 Jahre nach dem Krieg notwendig, neue Wege in der Erinnerungskultur zu gehen. Gedenken brauche Wissen, und die Frage sei, wie dieses Wissen – insbesondere in der Schule – vermittelt werden könne. Eine Möglichkeit sieht Schuster darin, dass etwa im Religionsunterricht grundsätzliche Fragen wie »Warum lässt Gott Leid zu?« besprochen werden. Als ein Problem benennt er die Lehrpläne: In der Regel würde zuerst im Deutschunterricht anhand von entsprechender Lektüre über die Schoa gesprochen und später erst im Geschichtsunterricht die Fakten vermittelt. »Der Zentralrat der Juden unterstützt daher die Forderung von Geschichtsdidaktikern, diese Reihenfolge umzudrehen«, sagt Schuster.

Jüdischer Alltag Den Schulen komme bei der Wiedergabe von Erinnerung eine Schlüsselposition zu. Wenn die Vermittlung in der Schulzeit schiefgehe, würden sich die Menschen abwenden und nicht mehr hinschauen wollen. Schuster plädiert dafür, dass Schulen das Judentum nicht nur in Bezug auf die Zeit von 1933 bis 1945 in den Mittelpunkt stellen, sondern in der Zeit davor, etwa im jüdischen Schtetl in Osteuropa, damit wahrgenommen werde, welche Welt die Nazis »endgültig vernichtet« haben. Bei der Vermittlung dürfe die Heterogenität der Schülerschaft nicht außer Acht gelassen werden. Das Gedenken an die Schoa in einer Einwanderungsgesellschaft müsse die unterschiedlichen kulturellen Prägungen der jungen Menschen berücksichtigen.

Neue Wege der Erinnerungskultur seien aber nicht nur aufgrund der sich verändernden Demografie erforderlich, sondern auch, weil die neuen Medien das Rezeptionsverhalten von Menschen veränderten. Facebook, Twitter, Snapchat – auch diese Medien seien hilfreich, um die Erinnerung an die Schoa wachzuhalten. Entgegen seiner anfänglichen Skepsis habe er sich, nicht zuletzt durch seinen 33-jährigen Sohn, überzeugen lassen, dass sich soziale Medien durchaus eignen.

Digitale Medien Bis vor gar nicht so langer Zeit habe er nicht gewusst, was Snapchat ist. Erst als er von der Axel-Springer-Akademie die Anfrage erhalten habe, an einem Snapchat-Projekt zum Holocaust teilzunehmen, habe er sich eingehender mit digitalen Medien dieser Art befasst und sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit gestellt. Sein Fazit: »Es ist ein überzeugendes Projekt! Es heißt ›Sachor Jetzt!‹ Journalistenschüler haben ehemalige Konzentrationslager oder Ghettos aufgesucht, sich mit Überlebenden oder jungen Juden getroffen und senden davon über Snapchat Bilder und kurze Videos. Und es ist den jungen Leuten anzumerken, wie ernst ihnen ihr Anliegen ist. Sie wollen die Erinnerung an die Schoa wachhalten und suchen einen Weg, um ihre Eindrücke an Gleichaltrige weiterzugeben.«

Der Zentralratspräsident ist nunmehr überzeugt, »dass Gedenkkultur ohne Social Media heute nicht mehr möglich ist«. Sie ersetzten aber nicht den klassischen Weg über den Schulunterricht.

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