Es war seine Heidelberger Hochschulrede, die manchem Zuhörer in Erinnerung geblieben sein dürfte. Auf Einladung der Hochschule für Jüdische Studien hatte Karl Lehmann im Juni 2008, kurz nach Niederlegung des Vorsitzes der Deutschen Bischofskonferenz, die »Rückkehr der Religion. Von der Ambivalenz eines zeitdiagnostischen Schlagwortes« als Thema gewählt und kritisch untersucht, was für eine Religion das sei und was ihre Rückkehr in die Mitte einer säkularisierten Gesellschaft bedeuten könne.
Alsbald wurde klar, dass Lehmann der publizistischen Figur der »Rückkehr der Religion« nur wenig Tragfähigkeit zutraute. Etwa um die Mitte seines Manuskripts gab er das Thema eigentlich ganz auf und beschäftigte sich fortan mit den Bedingungen für die Ökumene in der säkularen Gesellschaft. Damit war – wohlgemerkt – die christliche Ökumene gemeint, und kritisch hätte man anschließend bemerken können, dass dieser Teil des Vortrags den Vortragsort und sein Publikum aus den Augen verloren habe.
Vielmehr klang auch noch einiges aus seiner römischen Dissertation von 1962 zu »Ursprung und Sinn der Seinsfrage im Denken Martin Heideggers« an, die sich im Zeichen »des immer heftigeren Streites« mit der Problematik der Frühschriften des Freiburger Philosophen befasste, also einmal mehr in eine andere Richtung führte. Es hätte nicht verwundert, wenn nach dem Vortrag kritische Stimmen aufgekommen wären. Es kam aber nichts. Offenbar war Karl Lehmann bekannt, geschätzt und authentisch genug, um Irritationen gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Gespräch Meine nächste und auch schon letzte Begegnung mit Karl Lehmann fand im April 2017 in Mainz statt, ein Jahr nach seiner Resignation vom Bischofsamt, am Rande einer Tagung der Unterkommission für die Beziehungen zum Judentum der Deutschen Bischofskonferenz. Der Altbischof kam hier zum Gespräch, als Berichterstatter zu den christlich-jüdischen Beziehungen, im Grunde als Zeitzeuge, der den Blick über 50 Jahre zurück auf das Zweite Vatikanische Konzil und die Erklärung Nostra Aetate (»In unserer Zeit«) im Oktober 1965 lenkte. Diese galt den nichtchristlichen Religionen insgesamt, hat aber mit ihren Ausführungen zum Verhältnis der Kirche zum Judentum historisches Gewicht gewonnen.
Kardinal Lehmann schilderte eindrücklich die schwierige Genese gerade des Abschnitts zum Judentum. Dieser hatte nicht nur gegen traditionelle theologische Widerstände zu kämpfen, sondern auch dagegen, dass arabische und osteuropäische Staaten direkt Widerstand leisteten oder indirekt ihre Einwände über Konzilsteilnehmer zum Ausdruck brachten. Tatsächlich war die Anerkenntnis, dass in anderen Religionen Wahres und Heiliges bestehe und der Bund Gottes mit den Juden nicht aufgehoben sei, ein radikaler Bruch mit den bis dahin gepflegten und bis hin zur Verfolgung praktizierten Haltungen. Nostra Aetate bereitete auch die Grundlage für das im Jahr 2000 durch Papst Johannes Paul II. ausgesprochene Schuldbekenntnis gegenüber dem Judentum.
Wendungen Karl Lehmann hat an dieser Entwicklung Anteil genommen und Anteil gehabt. Dabei war sein Weg nicht eindeutig vorgezeichnet und eigentlich eine Abfolge von Wechselfällen und Wendungen: von der philosophischen Promotion über einen nichtchristlichen Philosophen (1962) zur Dogmatik-Professur in Mainz (1968) und zur Professur in Dogmatik und Ökumene in Freiburg (1971), dann auf den Mainzer Bischofsstuhl (1983–2016) und zum Vorsitz der Deutschen Bischofskonferenz (1987–2008). Gerade in diesem Amt war er auch als Politiker gefragt, der gegenüber regressiven Tendenzen innerhalb der Kirche stets Freiräume ausloten und Brückenschläge wagen musste, etwa gegen den völligen Ausstieg der Kirche aus der Schwangerenkonfliktberatung.
Besieht man Kardinal Lehmanns Tätigkeiten jenseits des Bischofsamtes, dann fallen vor allem die zahlreichen Funktionen in Gremien christlicher Ökumene auf. Die Beziehungen zum Judentum waren ihm aber nicht minder angelegen. Mit dem in Mainz geborenen Rabbiner Leo Trepp und seiner Frau Gunda unterhielt Lehmann eine enge Freundschaft. Zu einem Band mit den Schriften des Rabbiners schrieb der Bischof ein Vorwort.
2006 wurde Lehmann der Abraham-Geiger-Preis zuerkannt. Der Zentralrat der Juden in Deutschland würdigte den Verstorbenen als »einen jener Vertreter der katholischen Kirche, die einen besonders wichtigen Beitrag zur Versöhnung leisteten und fest an der Seite der jüdischen Gemeinschaft standen«. Hervorgehoben wird dabei, dass Kardinal Lehmann »mit hoher Sensibilität und Klugheit sich stets für ein gutes Verhältnis von Christen und Juden eingesetzt hat und es ihm auch gelang, Missverständnisse oder Unstimmigkeiten auszuräumen.« Hervorgehoben wird in der Erklärung, dass die Deutsche Bischofskonferenz unter Lehmanns Leitung die deutliche Absage an die Judenmission bekräftigte.
Synagoge Kardinal Lehmann zählte tatsächlich zu jenen, die zu neuem Denken fähig waren. Die großen jüdischen Namen seiner Bischofsstadt wie Gerschom ben Jehuda, die Mitglieder der Kalonymos-Familie oder der Maharil waren ihm ebenso präsent wie die seiner Vorgänger Bonifatius, Hrabanus oder Willigis. Den Bau der neuen Mainzer Synagoge hat er als Kuratoriumsmitglied gefördert und zur Einweihung 2010 gemeinsam mit dem evangelischen Kirchenpräsidenten der Jüdischen Gemeinde eine Torarolle geschenkt.
Im April 2017 hat er mich mit der Genauigkeit überrascht, mit der er die seit Nostra Aetate ergangenen jüdischen Erklärungen zum Christentum referieren und würdigen konnte. Die Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum, unter dem Titel »Den Willen unseres Vaters im Himmel tun« 2015 erschienen, hat er als »großes Zeichen« betrachtet und mit Optimismus auf die weitere Entwicklung der jüdisch-christlichen Beziehungen geschaut, aber auch gemahnt, nichts von alledem zu vernachlässigen.
Der Autor ist Rektor der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg.