Kahl und leer sind die sogenannten Voids im Jüdischen Museum Berlin. Sein Architekt Daniel Libeskind hat die Leerräume zum wichtigsten Strukturelement dieses Museums gemacht. Der Mensch verliert in ihnen die Orientierung, fühlt sich deplatziert, Maßstäbe gehen verloren. Katrin Göring-Eckardt, Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, beginnt bei der zentralen Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit am Sonntag in Augsburg mit dem Gedanken der Leere ihre Laudatio auf Daniel Libeskind. Der amerikanische Architekt erhält in diesem Jahr die Buber-Rosenzweig-Medaille für christlich-jüdische Verständigung.
Auf schwarz verhangener Bühne steht sie im Theater Augsburg und zitiert den New Yorker Architekten, der seit seiner Geburt 1946 im polnischen Lodz 14 Mal umgezogen ist, ehe er 1960 mit seiner Familie auf Ellis Island unter der Freiheitsstatue anlandete: »Keinen Ort zu haben, ist für mich auch ein Erbe, eine historische Bedingung.« Als Jude habe er einen besonders scharfen und genauen Blick auf die entwurzelnde Wirkung der Globalisierung. Seine Architektur erzeuge keine trügerische Harmonie, sondern stelle sich der Aufgabe, in der Heimatlosigkeit eine Bleibe zu schaffen. »Seine Museumsräume«, sagt Göring-Eckardt, »konfrontieren uns mit existenziellen Sinnfragen und Widersprüchen. Doch zugleich fühlen wir uns in ihnen richtig aufgehoben – gerade weil sie unser Innerstes ansprechen und nicht nur an der Oberfläche wirken.«
Menschlichkeit Gegen Geniekult und Größenwahn sei Daniel Libeskind zum Glück immun, unterstreicht die Laudatorin. Er habe eine tiefe Ehrfurcht vor dem Gewachsenen und gestalte aus den Schätzen der kulturellen Tradition »in geradezu zärtlicher Zuwendung« etwas Neues. Auf die Frage der Moderatorin Tina Mendelsohn wird Libeskind später antworten, wer die Architektur vergöttere, erzeuge nur Albträume. Seine Bauten sollten »das Menschliche« ausdrücken.
»Blessed the man« – »Wohl dem Mann, der nicht dem Rat der Frevler folgt«, verkündet voll Seele und Esprit die Jazzsängerin des Daniel Eberhard Ensembles. Ihre Vertonung des ersten Psalms changiert zwischen Abscheu über die Frevler und Sanftmut mit den Gerechten. Eine Stimmungslage, die auch der Augsburger Rabbiner Henry G. Brandt, jüdischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, bedient.
Die verlorenen Maßstäbe, so greift er das diesjährige Motto auf, seien nicht erst der Banken- und Wirtschaftskrise anzulasten. Sie seien »nur die Symptome einer tief verwurzelten gesellschaftlichen Malaise«. Immer weiter habe sich der Zug in den Größenwahn bewegt. Auf Kosten von Tausenden, die in aller Öffentlichkeit bloßgestellt wurden, habe man die Besten von irgendetwas gesucht und habe Fußballer und Rockstars mit hohen Geldbeträgen überschüttet, kritisiert der Rabbiner. Mit Füßen getreten, verlacht und bespottet seien indes die Grundsätze und Lehren der heiligen Bücher worden: das Primat des Lebens, die Verantwortung für die Schöpfung, der Einsatz für Gerechtigkeit, Friedensliebe und Freiheit.
Werte Für eine solche entschiedene Ermahnung erhält Henry Brandt denselben anerkennenden Beifall im Theater wie ein nachdenklicher bayerischer Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) für sein Grußwort. Erschütternde Gewalttaten, scho-
ckierender Kindesmissbrauch und überspitzte Satire an der Grenze des Erträglichen nennt er als Beispiele verlorener Maßstäbe. Verschüttet, verdeckt und unberücksichtigt seien die Werte, die eine Gesellschaft braucht, und nur eine gemeinschaftliche Kraftanstrengung könne sie wieder sichtbar machen. »Ein tiefer Fall führt oft zu höherem Gewinn«, zitiert Seehofer zuversichtlich den englischen Dramatiker William Shakespeare.
Der gebaute Beweis dafür ist der Goldene Saal des Augsburger Rathauses. Im Deckenbild regiert die Weisheit – ein Ausdruck des Protestes gegen die ganz andere Wirklichkeit des Dreißigjährigen Krieges, der zur Zeit der Fertigstellung des Festsaales 1643 noch tobte. Gold und Schnitzwerk umstrahlen Daniel Libeskind, der bescheiden im schwarzen Anzug mit schwarzem Shirt auftritt, um Zeugnis von seiner Baukunst abzulegen.
Fragmente »Architektur ist eine Stimme, die wir fast nicht hören können, die Stimme des Gewissens, die durch die Zeit zum Schweigen gebracht wurde«, sagt der Gestalter des Jüdischen Museums Berlin, des Kriegsmuseums Manchester und des Felix-Nussbaum-Hauses in Osnabrück. Der 1944 in Auschwitz umgekommene Maler habe ihn auf die Idee gebracht, die »Flaschenpost der Vergangenheit zu öffnen«. Ihre Geschichten erzählt Libeskind – in schmalen Gängen, die die Ausweglosigkeit jüdischen Schicksals zur NS-Zeit zeigen, in fragmentierten Baukörpern des Berliner Museums, seinen schrägen Linien, die von einer aus den Fugen geratenen Welt sprechen, im weißen Lichteinfall, der auf Hoffnung zielt.
Wenn seine Architektur jüdisch sei, sagt Libeskind, dann deshalb, weil sie die »goldene Tradition« des Judentums umsetze, ständig Fragen zu stellen. Die Einsicht, dass die Welt komplex ist, dass es keine einfachen, sondern oft sogar widersprüchliche Antworten gibt, verpflichtet zum Lernen aus der Geschichte. Auch dazu seien Museen da. Trotz ihrer Fehler sei die Welt voller Hoffnung. Gerade der Architekt »muss immer ein Optimist sein«, doziert Daniel Libeskind. »Wenn man baut, glaubt man an die Zukunft.«