In ihr Stammcafé, das Bleiberg in Berlin-Charlottenburg, hat sie es seit einigen Monaten nicht mehr geschafft, ebenso wenig war sie am vergangenen Jom Haschoa im Gemeindehaus dabei. Wenn man in der Gemeinde fragt, ob jemand Helga Simon gesehen hat, gibt es nur verneinendes Kopfschütteln. Dabei ist sie eine Institution der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, immerhin hat sie seit mehr als 63 Jahren als Hausfotografin so ziemlich jeden und alles fotografiert. Jeden Ball, jedes Fest, viele Geburtstage, Synagogeneinweihungen, Schulanfänge, Siddurfeiern, Gedenkveranstaltungen, Hochzeiten und Empfänge – und immer wieder wurden ihre Fotos in der Jüdischen Allgemeinen abgedruckt.
Vor Kurzem ist Helga Simon von ihrer knapp 200 Quadratmeter großen Wohnung in der Bismarckstraße in das Apartment einer Seniorenresidenz im Märkischen Viertel gezogen. Tausende von Negativen, Filmrollen, das Fotostudio und ihre Unterlagen hat sie zurückgelassen. In den ersten Jahren ihres Schaffens waren darunter noch etliche Aufnahmen des damaligen Gemeindevorsitzenden Heinz Galinski sowie des Vorsitzenden der Repräsentantenversammlung (RV) und Showmasters Hans Rosenthal. Sie ließ es sich nicht nehmen, alle Repräsentanten der RV zu fotografieren und diese Porträts Zeitungen anzubieten. Nur die jetzige RV hat sie nicht fotografiert – weil sie nun doch zu schwach geworden ist.
bühne Meist mit einer kleinen schwarzen Fliege im Haar und einer Tasche mit Fotoapparat über der Schulter, betrat die etwa 140 Zentimeter kleine Person Synagogen, Schulen und das Gemeindehaus – es war immer auch der Auftritt einer großen Persönlichkeit, denn Helga Simon ist eine Zeitzeugin der Entwicklung der Berliner Gemeinde. Fotografierte sie tagsüber Gemeindeveranstaltungen, dokumentierte sie nachts das andere Berlin – sie fotografierte in Nachtklubs am Ku’damm, porträtierte Tänzerinnen im Café Keese und begleitete mit ihrer Kamera Veranstaltungen im Haus Wien. Auch für Rolf Eden fotografierte sie in seinem »Eden Salon«, später auch in seiner Disco »Big Eden«.
Doch auch auf der politischen Bühne Berlins war sie stets mit ihrer Kamera dabei. »Wenn die ganze Presse herausgebeten wurde, durfte ich noch bleiben«, sagt die 88-Jährige. Alle Bundespräsidenten hat sie geknipst, alle Regierenden Bürgermeister zu Berlin. Vor allem an die Zeit mit Klaus Wowereit (SPD) denkt sie gerne, denn zu ihm hatte sie eine herzliche Beziehung. Beide lächeln auf einem Foto gemeinsam in die Kamera, die jemand anderes hält. Das Foto steht heute neben ihrem Fernseher, neben Schnappschüssen, die Helga Simon bei ihrer Arbeit festhalten – etwa, wie sie den ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker fotografiert.
»Ich kann viel erzählen«, sagt sie über ihr Leben. Das größte Glück, das sie erlebt habe, sei die Begegnung mit Heinz Galinski gewesen, dem verstorbenen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde. »Er hat die wichtigste Rolle in meinem Leben gespielt.« Wie ein Vater habe er sich um sie, die im Krieg Vollwaise geworden war, gekümmert.
verfolgung Helga Simon konnte die Verfolgung durch die Nazis mithilfe von Verwandten überleben, die sie in Ostpreußen versteckt hatten. Ihr Vater wurde in Auschwitz ermordet. Die Mutter, Else Simon, eine damals berühmte Schneiderin aus einer protestantischen Familie, besaß zwei Modegeschäfte. In der Pogromnacht 1938 schrieb jemand »Kind Jude« auf eines der Schaufenster. Daraufhin flog Helga von der Schule. Else Simon galt nach Beschuss eines Flüchtlingstrecks als »verschollen«.
Bereits gehegte Emigrationspläne verwirft Helga Simon später, nachdem sie dem Vorsitzenden der jüdischen Nachkriegsgemeinde Heinz Galinski begegnet ist. Galinski nimmt sich Zeit, berät sie väterlich in verschiedensten Lebensfragen. Er sorgt auch dafür, dass sie ihre mittlere Reife nachholte. »Wenn ich ihn anrief und einen Notfall hatte, ließ er auch mal eine Sitzung unterbrechen, um mir zuzuhören.« Für sie sei er immer zu sprechen gewesen.
Als sie ihm ihre ersten Fotos zeigte, sagte er: »Du bist ein Naturtalent, bitte fotografiere für unsere Gemeinde.« Diese hatte damals ihre Büros im Jüdischen Krankenhaus, in dem Helga Simon sich zur Pflegerin ausbilden ließ. Galinski war es auch, der sich dafür engagierte, dass sie sich ohne Meisterprüfung als Fotografin selbstständig machen durfte, und machte sie zur »Hausfotografin« der Gemeinde. »Ich war mit meinem Fotoapparat verheiratet«, sagt sie.
gespür Ihre Karriere begann ungewöhnlich: Erst lernte sie Modedesign beim Lette-Verein, dann ließ sie sich zur Krankenschwester ausbilden, weil sie als Designerin keine Arbeit fand. Sie lernte einen Fotografen kennen, dem sie bei seiner Arbeit die Lampen hielt. »Blitzgeräte gab es ja nicht.« Als er einen Termin versäumte, griff sie selbst zum Fotoapparat. »Jede Aufnahme war ein Volltreffer«, meint sie. Sie habe ein gutes Gespür gehabt, die Menschen richtig in Pose zu stellen. Gesichter, die starr in die Kamera schauen, gab es bei ihr nicht. »Ich versuche, alle zum Lachen zu bringen.« Sie kündigte im Jüdischen Krankenhaus, machte den Führerschein und kaufte sich eine erste Kamera, eine Voigtländer. »Ich habe alles vor der Linse gehabt«, sagt sie.
Ihr Markenzeichen ist die Leiter. »Bei meiner Größe hatte ich immer eine dabei, um Saalaufnahmen und Übersichten zu fotografieren.« Das sei in den 50er-Jahren noch selten gewesen. So seien auch die Menschen in den hinteren Reihen erkennbar gewesen. Ihr Spitzname war damals: »Fotografin mit dem besonderen Auge«. Simon fotografierte Tag und Nacht – drei Stunden Schlaf reichten ihr aus. Sie konnte 48 Stunden am Stück durcharbeiten. »Das habe ich ja als Kind schon gelernt, bei dem vielen Fliegeralarm.«
Auch wenn sie nicht mehr aktiv am Gemeindeleben teilnehmen kann, einige Wünsche hat Helga Simon noch: »An erster Stelle Gesundheit. Und: Wenn jemand meine Biografie schreibt oder meine Lebensgeschichte verfilmt – das wäre wunderbar.« Aber auch schon weniger macht sie glücklich. Seit sie im Altersheim lebt, freut sie sich über jeden Besuch und jeden Anruf – und die Zeit, die derjenige mitbringt.