Erinnerung ist bekanntlich vor allem Symbolik. Das menschliche Gedächtnis braucht Haltepunkte wie Objekte und Gedenktage, um der Erinnerung einen Rahmen zu geben, und dieser Rahmen ist umso schwieriger zu erhalten, je länger der Bezugspunkt der Erinnerung zurückliegt.
So wird erklärlich, wie die Gedenkkultur in Deutschland, die doch in Politik und Gesellschaft einigermaßen fest verankert schien, in den vergangenen Wochen unerwartet schweren Schaden nehmen konnte. Die Frage, wie eng und ernsthaft die Bindung hochrangiger Politiker an diese Erinnerungskultur sein muss, ist zum Dreh- und Angelpunkt einer politischen Debatte geworden, die weit über Bayern hinausweist.
Die nicht unumstrittene Entscheidung des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, Hubert Aiwanger in seinem Amt als Staatsminister und stellvertretender Ministerpräsident zu belassen, ist inzwischen akzeptiert; das letzte Wort sprechen in wenigen Wochen die Wähler. Nur kann, zumal aus Sicht der jüdischen Gemeinschaft, am Ende keinesfalls ein einfaches »Weiter so« stehen, kein Zurück zur Tagesordnung und kein kollektives Schauspiel, das nach viel Empörung doch nur so tut, als sei im Grunde nichts geschehen.
FLUGBLATT-AFFÄRE Bedrückend ist dabei für mich nicht so sehr, dass ein Politiker sich womöglich in seiner Jugend katastrophal verlaufen hat. Dagegen ist niemand gefeit. Bedrückend ist für mich, dass im konkreten Fall in den Äußerungen des Ministers niemals ein Moment aufrichtiger Reflexion zu erkennen war. Schockierend ist, dass diese demonstrative Nichtachtung unseres bundesrepublikanisch-politischen Comme-il-faut von den Wählern nicht etwa abgestraft, sondern umgekehrt noch belohnt werden könnte. In den ersten Umfragen nach Bekanntwerden der sogenannten Flugblatt-Affäre hat Aiwangers Partei immerhin um ein Drittel zugelegt.
Es ist mehr als nur ein »schlechtes Beispiel«, wenn ein Spitzenpolitiker sich öffentlich unfähig zu ehrlicher Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zeigt.
All das hinterlässt nicht nur bei der jüdischen Gemeinschaft einen bitteren Beigeschmack. Es ist eben mehr als nur ein »schlechtes Beispiel«, wenn ein Spitzenpolitiker sich öffentlich unfähig zu ehrlicher Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zeigt. Das Gedenken wird so zu einer politisch-medialen Verhandlungsmasse degradiert und dadurch zu einem Thema, dem man sich widmen kann oder nicht.
Die wütende, teils giftige Ablehnung in den Zuschriften, die mich und die Israelitische Kultusgemeinde in den vergangenen Wochen erreicht haben, legt jedenfalls nahe, dass hier für einige Zeitgenossen mehr auf dem Spiel steht als Aiwangers Amtsverbleib. Die Schwächung des Holocaust als moralischer Bezugspunkt in der demokratischen Kultur unseres Landes richtet so einen erheblichen gesellschaftlichen Flurschaden an.
Ich formuliere sehr zurückhaltend, wenn ich sage: Das hätte es nicht auch noch gebraucht. Schon vor den ersten Veröffentlichungen haben die Umfragewerte der extremistischen AfD uns genügend Sorgen bereitet, und dabei spreche ich noch gar nicht von den albtraumhaften Umfragewerten aus den Ländern, in denen 2024 gewählt wird. Die Zahlen in Bayern sind schlimm genug. Sie zeigen, dass ein kleiner, querulantischer Teil der Menschen in unserem Land sich mit der fordernden Pluralität eines demokratischen Systems nicht arrangieren kann oder will.
WERTE Wer mit Werten wie Respekt und Würde nichts anzufangen weiß oder sie allenfalls für sich selbst in Anspruch nimmt, der hat mit der AfD in der Tat eine geeignete »Alternative«. Aber dieses Land, mein Land, hat Besseres verdient. Und jeder bayerische Bürger hat es am 8. Oktober in der Hand, seine Stimme dafür einzusetzen, dass Bayern seinem eigenen offenen Geist treu bleibt.
Wahlen sind wichtig, aber das jüdische Leben muss so oder so über den Tag hinausdenken. Das bedeutet für uns gelegentlich auch, den Blick zurück zu wenden. Das haben wir in diesem Jahr ganz unerwartet getan, als Anfang Juli tonnenweise Gebäudefragmente, darunter auch Reste der alten Münchner Hauptsynagoge, bei Bauarbeiten an einem Wehr in der Isar gefunden wurden.
Das jüdische Leben muss so oder so über den Tag hinausdenken.
Erst wenige Wochen zuvor hatten wir an den 85. Jahrestag des Beginns der Zerstörung der Synagoge am 9. Juni 1938 erinnert – und nun lagen Teile des Gebäudes plötzlich wieder vor uns. Schwerer als die Freude darüber wiegt freilich die Erkenntnis, dass die Verwendung der Bruchstücke als Baumaterial in den 50er-Jahren eine weitere Entweihung der Synagoge darstellte. Die Wiederentdeckung in unserer Zeit macht das nicht ungeschehen.
Während die archäologische Auswertung dieser unerwarteten Fenster in die fernere Vergangenheit noch andauert, werden wir in diesem Herbst an ein freudigeres Ereignis der Zeitgeschichte erinnern, denn am kommenden 9. November jährt sich die Grundsteinlegung für das heutige Jüdische Zentrum am Jakobsplatz zum 20. Mal. Auch das ist Symbolik. Das neue Kapitel der jüdischen Geschichte in München, das damals aufgeschlagen wurde, schreiben wir bis heute fort, und wir tun das in Zuversicht und Zusammenhalt ungeachtet aller äußeren Herausforderungen.
SCHOFARBLASEN Das können wir, weil wir trotz allem die übergroße Mehrheit der Gesellschaft an unserer Seite wissen. Das gibt uns als jüdischer Gemeinschaft – und auch mir ganz persönlich – Kraft und Mut. Es ist mir deshalb auch ein Anliegen, alle Münchnerinnen und Münchner am kommenden Sonntag zum öffentlichen Schofarblasen auf den Vorplatz unserer Hauptsynagoge einzuladen. Wenn zum neuen jüdischen Jahr der Klang des Widderhorns ertönt, dann soll dies für jedermann zu hören sein.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen für das kommende Jahr 5784 Glück und Erfolg, Segen und Frieden, und viele erfüllte und erfüllende Momente. Schana towa – gmar chatima towa!