Mit Hamburgs jüdischer Vergangenheit und den Hintergründen des Zweiten Weltkriegs wurden sie bislang kaum konfrontiert. Der »Geschichtomat«, ein Geschichts- und Kulturvermittlungsprojekt des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ), versucht jetzt, Hamburger Schüler behutsam an jüdische Vergangenheit und die Kultur der Gegenwart heranzuführen. Multimedial und an authentischen Schauplätzen, um die Teilnahme für die Jugendlichen so attraktiv wie möglich zu gestalten. Entwickelt von Ivana Scharf vom Atelier für Gesellschaftsgestaltung, geht das Hamburger Pilotprojekt nach erfolgreichem Start im Februar nun in die zweite Runde.
Spurensuche nach jüdischem Leben ausgerechnet in der evangelisch-lutherischen Kreuzkirche in Hamburg-Wandsbek? »Ja«, meint Klaus Schuldt, der sich als Zeitzeuge für das Geschichtsprojekt zur Verfügung gestellt hat. Der 78-Jährige als lebendige Nahtstelle zu einer Person und einer Zeit, die für Jugendliche in nebulöser Ferne liegt.
unfassbares Durch den pensionierten Lehrer, der sogar an ihrer eigenen Schule unterrichtet hat, wird Unwirkliches und Unfassbares plötzlich greifbar und begreifbar. Zwei Schüler und zwei Schülerinnen der Klasse 9 m der Gyula Trebitsch Schule Tonndorf, die früher Schule Sonnenweg hieß, erfahren durch ihn aus erster Hand vom Schicksal des einstigen Pastors Bernhard Bothmann.
Bothmann war aufgrund seiner Ehe mit der Jüdin Emmy aus dem Amt entlassen worden und durfte erst nach dem Krieg wieder für die Gemeinde tätig sein. Es half ihm weder, dass die Eltern von Emmy Bothmann trotz jüdischer Vorfahren der evangelischen Kirche angehörten, noch, dass er selbst als Pastor äußerst beliebt war. Hatte vorher die »Mischehe« niemanden gestört, nahm die Partei auf einmal daran Anstoß – unterstützt von Probst Dührkop, der unter seinem Talar eine SA-Uniform getragen haben soll.
Eifrig dokumentieren die 14- und 15-jährigen Schüler Michelle Schulz, Jacqueline von Rönn, Jonas Heyer und Pascal Grunow per Video jedes Wort dieses eloquenten Mannes, der ihr Urgroßvater sein könnte und der ihnen eine Brücke zu einer Welt baut, die vorher für sie nicht existierte. Später wollen sie das Gehörte auswerten und mit Texten und Fotos versehene Material auf die Homepage des Geschichtomaten stellen.
Youtube Begleitet werden sie dabei von Medienpädagogen und von Stephanie Kowitz-Harms, die ihnen das Projekt nahegebracht hat. »Als Anreiz für die Schüler, dass es im Internet nachhaltig wirkt«, sagt Kowitz-Harms. »Die letzte Projektgruppe ist sehr stolz darauf, dass sie mit dem Thema über jüdische Geschäfte, hochgeladen über den YouTube-Kanal, die meisten Klicks bekommen haben.«
1950 wurde Klaus Schuldt noch als letzter Jahrgang von Pastor Bothmann, der bis zu seinem Tod 1952 aktiver Kirchenmann war, konfirmiert. Zahlreiche Dokumente aus jener Zeit hat er mitgebracht, ein Konfirmationsfoto ist mit dabei, der »Völkische Beobachter« vom 31. Januar 1933 und »Der Stürmer«. Die Projektgruppe hat Fragen für das Interview vorbereitet, die Jonas jetzt vorträgt: »Kannten Sie die Familie Bothmann persönlich?« »Alle waren sehr musikalisch«, antwortet Klaus Schuldt. Der Pastor habe einen kräftigen Bass gehabt, eine Stütze des Kirchenchors. »Und er ist immer ein fröhlicher Prediger gewesen, trotz seines schweren Schicksals.«
Missverständnis Weitere Fragen erschließen das Überleben der Verfolgten. Klaus Schuldt berichtet, wie Emmy Bothmann 1945 ins Gefängnis von Lüneburg kam und kurz vor Kriegsende »entlassen« werden sollte – das Codewort zum Töten. Ein Gefängnisleiter mit menschlichen Zügen hatte das Wort im eigentlichen Sinne absichtlich »missverstanden« und die Frau des Pastors entlassen.
Vor dem Gespräch mit Klaus Schuldt hat die Gruppe schon das Grab der Familie auf dem Friedhof von Hinschenfeld besucht. Madeleine und Pascal haben den Grabstein fotografiert. Von seinem Vater, sagt Pascal, habe er schon erfahren, dass die Juden unterdrückt wurden. Aber erst das Gespräch mit dem Zeitzeugen hat allen den Impuls gegeben, sich auch nach dem Projekt weiter mit dem Thema zu befassen. Für Klaus Schuldt war es wichtig, den Schülern Rede und Antwort zu stehen: »Gerade jetzt ist das Thema wieder hochaktuell.«