Eine Wette? »Die Wette ist echt«, sagt Josef Girshovich. In der Redaktion des Polit-Magazins Cicero sei ihm die Idee gekommen. Von Berlin nach Jerusalem zu trampen in nur 20 Tagen und ohne Geld. »Das schaffst du nicht« – top, die Wette galt, eine Flasche Champagner.
Der junge Mann hat etwas Altenglisches. Er trägt einen blauen Blazer mit Stecktuch, Bundfaltenhose und Lederschuhe. Leicht zurückgegeltes Haar, gepflegter Dreitagebart. In seiner Wohnung in Berlin-Mitte ruht das Auge auf gediegen hölzernem Mobiliar. Lederne Sessel, Bibliothek, Cognac-Ecke. Er schreibt an einem Schrägpult.
Girshovich trinkt Tee. Kusmi, eine russische Sorte, stark gebrüht, aber verlängert. Von diesem aromatischen Kraut hatte er auf seiner Reise eine Packung dabei. Oft zog er sie aus dem Rucksack hervor. »Es gibt keine gute Reise ohne guten Tee. Und schon ist der traurigste Moment leichter zu ertragen.« Irgendwie britisch wie sein Habitus ist auch die Reise, die er unternommen hat: verrückt, aber durchaus kontrolliert.
Herkunft Vielleicht liegt es daran, dass er, 1981 in Hannover geboren, dort die englische Grundschule besucht hat. Vielleicht, weil er als Literaturwissenschaftler ein Jahr an der Brown University studierte. »Ich hänge sehr an dieser Alma-Mater-Idee der amerikanischen Universitäten.« Was immer er sagt, ist druckreif. Vielleicht liegt es auch daran, dass er als Sohn eines Leningrader Musikers ohnehin einen Hang zum kultivierten Spleen hat.
Seine Eltern emigrierten nach Israel, dann erhielt der Vater einen Ruf an die Staatsoper in Hannover. Auch die Großeltern leben in Israel, nur sprachlich blieb die Bindung zu Russland. »Mit meiner kleinen Tochter spreche ich Russisch.« Bald müsse er umziehen, sagt er, die Wohnung werde zu eng. Demnächst stehen die Dissertation an und ein Roman. Thema der Doktorarbeit: »Kosmopolitismus und Weltbürgertum – eine Ideengeschichte«. Da ist er nun mal in seinem Element.
»Die Laufbahn des Autors ist nicht ausgesucht. Ich muss schreiben. Ich bin glücklich, wenn ich mit Freunden am Tisch sitze und Wein trinke, ein wenig Charcuterie dazu. Aber dann zieht es mich gleich wieder an mein Schreibpult«, sagt Josef Girshovich. Und irgendwo muss man ja einmal anfangen als Schriftsteller.
Strecke 5.200 Kilometer hat er also zurückgelegt, in nur 17 Tagen. Von Berlin über den Balkan, durch die Türkei, Griechenland, Syrien und Jordanien. Sein Buch darüber ist 320 Seiten dick und gerade erschienen: Reise nach Jerusalem. »Diese 17 Tage sind an Intensität ein halbes Jahr gelebte Zeit«, sagt Girshovich. Inspiriert hat ihn unter anderem ein Brite.
Patrick Leigh Fermor brach 1933 zu einer Wanderung nach Konstantinopel auf. Er gilt als Mentor des Reiseromanciers Bruce Chatwin. Er habe, sagt Girshovich, unterwegs eine ähnliche Entdeckung gemacht wie Fermor: »Er hat nicht die Reise entdeckt, die Reise hat ihn entdeckt. Mir ging es darum, Gastfreundschaft zu testen.«
Dabei hat er sich Regeln auferlegt. Nicht von Freunden zu Bekannten gereicht zu werden. Kein Geld, keine Arbeit anzunehmen und auf die Vorteile sozialer Medien zu verzichten. »Damit man das Echo der Unbehaglichkeit spürt. Es geht vielmehr um ein ständiges Unterwegssein. Wie geht man damit um, wenn man nicht weiß, wo man am Abend schläft? Wie ist es, wenn man flieht oder getrieben ist?«
Zwei Bücher hatte er im Rucksack: Homer und die Bibel. In Letztere schrieb ihm im Regensburger Dom der Bischof: Herrn Josef Girshovich wünsche ich Gottes Segen für die Reise. »Das fand ich gut. Er hat nicht mich gesegnet, auch nicht die Reise, er hat Gottes Segen gewünscht. Er war dogmatisch korrekt«, sagt Girshovich. Schließlich sei die Reise ja auch eine Form von Pilgerschaft gewesen. Homer wiederum findet Niederschlag in zahlreichen Reflexionen über die Götter- und Sagenwelt. »Es ist ein Fest, mit einem Band Homer im Schliemanngraben zu sitzen«, schreibt er.
Gastfreundschaft Wenig später ist er im Bus der Troja-Touristen: »In deinen Worten ist Anmut und edle Gesinnung«, sagt eine Frau. »Hast du Hunger?« Prompt versorgt man ihn mit Sandwich und Studentenfutter. »Ich bin ein Gastfreund im alttestamentarischen Sinne. Die Valuta des Reisenden ist das Erzählen«, sagt Girshovich. »Ich war überrascht, dass es möglich ist, Menschen zu vertrauen. Wichtig ist es, als Gast sehr freundlich zu sein. Dann wandelt sich die Scheu schnell in Neugier.«
Ein paar Seiten später wird er selbst auf die Probe gestellt. Als er auf einem Marktplatz vergeblich versucht, Wasser zu bekommen, sprechen ihn zwei türkische Studenten an. Hamed und Sahin. Sie laden ihn ein, bei ihnen zu übernachten. Der Reisende nimmt nach einigem Zögern an. Auf dem Weg tuscheln sie, laufen im Kreis. Einer fragt: Bist du Jude?
»Wenn jemand fragt, ob ich Jude bin, werde ich nicht lügen«, schreibt er. Die Muslime finden eine salomonische Lösung: »Wir haben gesagt, du bist unser Gast, also zahlen wir für dich ein Hotelzimmer.« Eigentlich will der Reisende hier nur noch spucken und lieber hungern und frieren. Aber »ich war müde, der Tag war lang, was für eine Aussicht, Bett, Bad, Schlaf, die Süße, Hamed und Sahin in Verrichtung ihrer heiligen Pflichten zahlen zu lassen.«
Dennoch: »Gastfreundschaft ist ein In-stinkt menschlicher Kultur«, sagt Girshovich. Dass er am Ende doch noch ein paar jordanische Dinare erbetteln muss für eine syrische »Ausreisesteuer«, leistet dem Unternehmen keinen Abbruch. Schließlich kommt er wohlbehalten an.
»Wer, wenn nicht du? Jerusalem, in ihrer Heiligkeit einzigartig, hat mir als Ziel immer Kraft gegeben«, sagt Girshovich. Schon, als er in der Redaktion des Cicero stand und wettete. Die Redaktion war es dann auch, die seine Spesen übernahm – seine einzigen. Die Telefonkosten. »Da würde eine jüdische Mutter sonst durchdrehen, drei Wochen, ohne etwas zu hören.«