Der Publizist Arye Sharuz Shalicar hat sich für ein härteres Vorgehen gegen antisemitische Straftaten in Deutschland ausgesprochen. »Es kann nicht sein, dass in Deutschland im Jahr 2019 Menschen auf offener Straße angegriffen werden, nur weil sie als Juden erkennbar sind«, sagte Shalicar am vergangenen Mittwoch bei einer Diskussionsveranstaltung in der Humboldt-Universität in Berlin.
»Der Rechtsstaat muss mit aller Härte gegen antisemitische Straftäter vorgehen«, forderte der Autor und Berater des israelischen Außenministers Israel Katz (Likud). »Deutschland muss energischer Position gegen Juden- und Israelhass beziehen.«
VORFÄLLE Shalicar nahm mit seiner Forderung Bezug auf die beiden jüngst bekannt gewordenen judenfeindlichen Zwischenfälle in Berlin. Im Bezirk Steglitz-Zehlendorf soll Anfang vergangener Woche ein 23-Jähriger von einer zehnköpfigen Gruppe von Männern zunächst beleidigt und später geschlagen worden sein, nachdem er sich zu seinem jüdischen Glauben bekannt haben soll.
Gegenüber der Polizei hat der amerikanische Staatsbürger angegeben, dass er am Abend in einer Parkanlage zwischen der Rothenburg- und der Grunewaldstraße in der Nähe des Rathauses Steglitz unterwegs war, als er aus der Gruppe heraus beleidigt wurde. Nachdem ihn einer der Männer nach seiner Religion ausgefragt und er sich als jüdisch zu erkennen gegeben hatte, soll der Täter zugeschlagen haben.
Nach Polizeiangaben erlitt das Opfer ein Hämatom am Auge. Der Polizeiliche Staatsschutz beim Landeskriminalamt hat die Ermittlungen wegen eines vermuteten antisemitischen Tatmotivs aufgenommen.
Die Entwicklungen in Deutschland lassen den Politikberater auch in Israel nicht los.
Ein judenfeindliches Motiv wird auch bei einem Vorfall im Stadtteil Prenzlauer Berg im Bezirk Pankow vermutet. Dort hat ein 20 Jahre alter Mann Anzeige bei der Polizei erstattet, nachdem er von einem Unbekannten auf seine Kippa angesprochen und bespuckt worden sein soll. Auch dieser Vorfall soll sich zu Beginn der vergangenen Woche ereignet haben.
ERNÜCHTERUNG »Leider kann ich niemanden empfehlen, in Deutschland angstfrei die Kippa zu tragen«, sagte Shalicar. Es seien Vorkommnisse wie die in Steglitz und Prenzlauer Berg, die die Angst in der jüdischen Community in Deutschland vor dem wachsenden Antisemitismus im Alltag wachsen lasse, sagte der Publizist.
Der 41-Jährige, der als Sohn iranischer Juden in Göttingen geboren wurde und heute in Israel lebt, war auf Einladung des Mideast Freedom Forum Berlin und der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin und Brandenburg (DIG) an die Humboldt-Universität gekommen, um über sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch Der neu-deutsche Antisemit zu sprechen.
Darin schildert er seine Gespräche mit deutschen Spitzenpolitikern, Vertretern von Nichtregierungsorganisationen, Journalisten, Polizisten und weiteren Akteuren der Zivilgesellschaft über das deutsch-israelische Verhältnis und den Nahostkonflikt. Shalicars ernüchternde Schlussfolgerung: »Der Antisemitismus ist in Deutschland, häufig getarnt als sogenannte Israelkritik, weiterhin tief verwurzelt.«
Wenn er die wiederkehrenden Nachrichten über antisemitische Vorkommnisse vor allem in deutschen Großstädten lese, frage er sich, ob jüdisches Leben 70 Jahre nach der Schoa in Deutschland heute wirklich willkommen sei. »Seit meiner Jugend in Berlin sind viele Jahre vergangen, aber die Probleme scheinen häufig dieselben geblieben zu sein«, sagte der Publizist.
WEDDING Shalicar wuchs als Teenager in Berlin-Wedding auf. Als Jugendlicher war er eine Zeitlang Mitglied einer türkisch-arabischen Jugendgang. Nachdem seine jüdische Herkunft bekannt wurde, stellte sich sein Leben auf den Kopf. »Zwei Jahre habe ich damals in Angst und Schrecken vor Übergriffen gelebt«, erinnerte sich Shalicar.
Der Hass auf ihn habe erst aufgehört, als sich ein Angehöriger eines kriminellen kurdischen Familienclans an seine Seite gestellt hatte. Um das Schutzbekenntnis des Clanmitglieds immer wieder aufs Neue zu bestätigen, wurde Shalicar selbst kriminell.
»Ich bin heute sehr, sehr froh, dass ich – in Anführungsstrichen – nur in der Graffiti-Szene aktiv war«, sagte Shalicar. Viele seiner Bekannten von damals seien später wegen Delikten wie Drogenhandel, Zuhälterei und Waffenhandel ins Gefängnis gekommen.
»Ich will mich mit dem Bullshit nicht abfinden, ich rede Klartext«, sagt Shalicar.
Über seine Jugend in den Straßen Berlins hat Shalicar 2010 in seinem Buch Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude geschrieben. »In Israel wurde ich neugeboren«, sagte der Publizist. Shalicar hatte sich 2001 dazu entschieden, Alija zu machen. In Israel beendete Shalicar sein Politikwissenschaftsstudium an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Nach seinem Wehrdienst in der israelischen Armee arbeitete er von 2009 bis 2017 als Pressesprecher der Streitkräfte.
Obwohl Israel inzwischen zu seiner Heimat geworden ist, lassen ihn die Entwicklungen in Deutschland und Berlin nicht los. Auf Facebook schreibt Shalicar regelmäßig Kommentare. »Ich will mich mit dem Bullshit nicht abfinden, ich rede Klartext«, sagte Shalicar.
Die Antworten, die er in den sozialen Netzwerken häufig auf seine Statements bekomme, seien zutiefst erschütternd und strotzten nur so von Judenhass, sagte der Publizist. Sein neues Buch habe er 2018 unter dem Eindruck des Videos geschrieben, das einen offenbar antisemitisch motivierten Angriff auf einen jungen Mann im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg zeigt.
Trotz aller Negativmeldungen glaube er an den Dialog. »Die liberale und demokratische gesellschaftliche Mitte in Deutschland darf nicht zulassen, dass die Extremisten von rechts, links und islamistischer Seite die politische Agenda bestimmen.« Bei seinen Lesereisen und Schulbesuchen in Deutschland wolle er auch weiterhin für Toleranz und Vielfalt werben.