Ruth Winkelmann, 96, ist in ihrem Leben dem Tod mehrfach knapp entkommen ist. Die Berlinerin wurde 1928 als Tochter eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter geboren, wurde beinahe deportiert und musste im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeit leisten. Als Zehnjährige geriet sie in die Novemberpogrome in der Hauptstadt.
Ein Gespräch mit der Hochbetagten in ihrem Haus im Berliner Norden bei Kaffee und Nappos - eine Süßigkeit, die Winkelmann an ihre Kindheit erinnert - über den 9. November 1938, Familie und ihre Jüdischkeit.
Frau Winkelmann, vor 86 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, wurden in ganz Deutschland jüdische Geschäfte geplündert, Menschen verschleppt, ermordet und Synagogen zerstört. Sie haben diesen Tag als zehnjähriges Mädchen in Berlin erlebt. Wie erinnern Sie sich an diesen Tag?
Wir wohnten in Hohen Neuendorf außerhalb Berlins. Morgens bin ich mit meinem Vater und Großvater mit dem Lastwagen nach Berlin reingefahren, sie mussten in das Geschäft meiner Großeltern in Mitte. In Wittenau haben wir die ersten kaputten Schaufenster gesehen und randalierende SA- und SS-Leute, die »Juden raus« geschrien haben. Und überall waren Glassplitter, teilweise wurden die Geschäfte auch geplündert. Dann habe ich einen orthodoxen Juden gesehen, einen ganz schlanken Mann, mit Schläfenlocken und einem langem Mantel. Auf dem Rücken war ein Davidstern in weißer Farbe gemalt. Er wurde geschlagen. Als ich das sah, ist mir ganz himmelangst geworden. Mein Großvater neben mir sagte immer: Erzähl doch, was siehst du denn. Er war blind, hatte im Ersten Weltkrieg als Soldat sein Augenlicht verloren.
Sie sind an dem Tag trotzdem ganz normal in die Schule gegangen?
Ja, wir kamen zur Jüdischen Mädchenschule in der Auguststraße. Da war aber alles noch ruhig. Mein Großvater hat mir auch noch wie immer einen Groschen gegeben für den täglichen Apfel. Als wir in der Schule drin waren gegen acht Uhr, wurde sie von außen von der SS verbarrikadiert. Die Lehrer haben überlegt - wie kann man die Kinder hier herausschleusen? Es war alles zu, wir waren eingesperrt. Man konnte damals von einem Dachboden zum anderen gehen, da sind wir dann durch mehrere Häuser durch, bis wir an die nächste Querstraße kamen. Und da sind wir dann raus, immer zwei Mädchen zusammen.
Als Sie mit Ihrer Freundin die Straße entlang gingen, was haben Sie gedacht? Sie waren ja noch ein Kind.
Wir sind als ganz normale Schulkinder gelaufen, mit unseren Ranzen auf dem Rücken. Zuerst hatten wir furchtbare Angst, als wir aus dem Haus kamen. Aber dann haben wir uns unterhalten, wir haben sogar gelacht. Es ist uns ja nichts Schlimmes passiert in dem Moment. Dass man uns das Innere kaputt gemacht hat, haben wir damals gar nicht begriffen. Dass man uns das Vertrauen in die Menschheit genommen hat.
Haben Sie irgendwann das Vertrauen in die Menschheit wiederbekommen?
Ja. Wahrscheinlich durch die Herzlichkeit meiner Mutter, die ja Kindergärtnerin gewesen ist. Nicht Geld und Luxus ist wichtig im Leben. Wenn ich damals Ferien gemacht habe, habe ich manchmal, wenn wir unterwegs waren, beim Bauern im Heu zwischen meinen Eltern geschlafen. Das war das Allerschönste.
Ihr Vater war Jude, Ihre Mutter zunächst evangelisch, dann konvertierte sie zum Judentum. Sie selbst wurden jüdisch erzogen ...
Ja, wir waren nicht sehr religiös und haben auch nicht koscher gegessen, aber Freitagabend Schabbat gefeiert, und ich bin auch in die Synagoge gegangen. Mein Opa sagte immer: »Genieß es«, wenn wir die schöne Musik gehört haben.
Ihre Eltern haben versucht, Sie und Ihre kleine Schwester vor den Nazis zu schützen, indem sie sich getrennt haben. Das klappte aber nicht: Ihr Vater und sie selbst, als »Halbjüdin«, mussten nach Kriegsbeginn Zwangsarbeit leisten.
Ja, und wir mussten nach der erzwungenen Scheidung auch in verschiedenen Wohnungen leben, das war sehr schlimm für uns alle. Dieses traurige Gesicht, das mein Vater gehabt hat, wenn wir uns getroffen haben, werde ich nie vergessen. Wir wussten ja jedes Mal nicht, ob wir uns wiedersehen. Warum sind Menschen so? Warum können wir nicht friedlich zusammenleben?
Fast Ihre gesamte jüdische Verwandtschaft, auch Ihre Großeltern und Ihr Vater Hermann wurden in Konzentrationslagern ermordet. Aber Jahre nach dem Krieg haben Sie von Ihrem Vater ganz unvermutet noch einmal etwas gehört ...
So war es. Ich saß mit meinem Mann Karl-Heinz abends an der Bar auf einem Schiff nach Israel, als mich der Barkeeper, ein gut aussehender Israeli, ansprach: »Wir kennen uns doch.« Ich wusste aber ganz genau, dass ich ihn noch nie gesehen hatte. Am nächsten Abend saß ich wieder an der Bar, und dann sagte der Mann zu mir: »Du hast recht, wir haben uns noch nie gesehen. Aber ich kenne deinen Vati ganz genau. Wir waren beide in Auschwitz. Ich habe oben im Bett gelegen und dein Vati unten. Er hat mich wie einen Sohn betreut. Und wenn du dich bewegst, sieht das genau aus wie bei deinem Vater.«
Trotz alledem sind Sie in Deutschland geblieben ...
Ich bin doch Deutsche! Die Vorfahren meines Großvaters sind schon 1492 aus Südspanien nach Berlin gekommen, als die Christianisierung in Spanien war und die Juden raus mussten. Das ist mein Deutschland. Das lasse ich mir von keinem wegnehmen. Meine jüdische Familie war so preußisch, wie man sich nur vorstellen kann. Für meine Großmutter war völlig klar, erst kommt der Staat, dann die Stadt, dann die Familie und dann man selbst.
Sie haben jahrelang geschwiegen und nichts über Ihre Vergangenheit erzählt. Erst seit Anfang der 2000er-Jahre gehen Sie in Schulen.
Es fiel mir lange sehr schwer, darüber zu sprechen. Bei meiner ersten Veranstaltung habe ich fast nur geweint. Irgendwann habe ich dann ein Buch über meine Erlebnisse geschrieben. Ich begreife das als meine Aufgabe: Es ist das, was ich dem Leben wiedergeben möchte, weil ich überlebt habe.
Sie tragen bei Ihren Lesungen und auch heute eine Kette mit Davidstern-Anhänger. Haben Sie keine Angst, ihn öffentlich zu zeigen?
Doch, auf der Straße trage ich ihn aus Sicherheitsgründen nicht mehr offen. Ich will nicht, dass man ihn mir vom Hals reißt. Ich habe das einmal in der S-Bahn erlebt, dass einem türkischen Mädchen ihre Halbmond-Kette vom Hals gerissen wurde. Die Leute waren damals wie erstarrt, keiner hat etwas unternommen.
Was bedeutet der Glauben für Sie?
Wir haben alle nur einen Gott. Der ist immer für mich da. Dass zwei Religionen sich bekämpfen, kann ich nicht verstehen.
Wie machen Sie das, dass Sie immer noch so jung wirken
Viel selbst gekochte Brühe trinken (lacht). Ja, ich bin ein junges Mädchen, das ein bisschen älter geworden ist. Eigentlich will ich noch 100 werden. Aber manchmal denke ich auch: Herrgott, lass es gut sein.