Für Migranten und Migrantinnen ist es eine der größten Schwierigkeiten, eine ganz neue Sprache zu erlernen. Und dazu dann noch das neue Land als Heimat ins Herz zu schließen. Beides ist mir in Bremen gelungen. Ohnehin mochte ich die deutsche Sprache schon immer, sie klingt schön für mich. Bereits als Teenager habe ich deutsche Literatur mit Genuss gelesen. Erich Maria Remarque, Rainer Maria Rilke, Heinrich Heine oder E.T.A. Hoffmann. Damals natürlich noch in russischer Übersetzung.
Ursprünglich komme ich von der Krim. Seit über 20 Jahren lebe ich hier in Bremen und bin inzwischen auch deutsche Staatsbürgerin. In meiner eigenen Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie habe ich mich auf Kinder, Jugendliche und Familien mit Migrationsgeschichte spezialisiert.
migration Mich interessieren besonders das Thema Trauma in Verbindung mit Migration sowie interkulturelle Dynamiken. Schon auf der Krim bin ich in einer sehr multikulturellen Umgebung aufgewachsen: als Ukrainerin mit polnisch-jüdischen Wurzeln inmitten von Armeniern, Krimtataren, Griechen, Ukrainern und Russen.
Kurz nach Kriegsbeginn in der Ukraine habe ich angefangen, in meiner Praxis eine ehrenamtliche Sprechstunde für Geflüchtete anzubieten. Jeden Freitag kommen vier bis fünf neue Kinder und Jugendliche zu mir. Das ist stets eine große Herausforderung und auch anstrengend. Aber ich bin es ohnehin gewohnt, viel zu arbeiten und verschiedene Dinge parallel zu tun.
Meine Eltern leben nur wenige Schritte von mir entfernt, ebenfalls in Bremen.
Im Zuge des Krieges habe ich zudem eine geflüchtete Freundin aus Kiew bei mir zu Hause aufgenommen. Ich war beeindruckt, wie viel Hilfsbereitschaft die Menschen in Deutschland gezeigt haben. Sogar einige Bekannte, mit denen jahrelang Funkstille herrschte, haben mich wieder kontaktiert. Sie wollten wissen, wie sie am besten helfen können.
Nach dem Medizinstudium war mein großer Traum, Psychiatrie in Deutschland zu lernen. Nach Bremen kam ich Ende der 90er-Jahre wegen der Liebe. Mein damaliger Partner konnte sich für seinen Post-Doc drei verschiedene Städte aussuchen. Per Losverfahren ist es dann Bremen geworden. Schon in den ersten Tagen war mir klar, dass ich hierbleiben will.
Laientheater Nach wie vor schätze ich an Bremen die Lässigkeit im Umgang untereinander. Die Stadt ist voll von Geheimnissen und märchenhaft. Auch nach 20 Jahren mag ich es, im Schnoor-Viertel zu sein und vor einem dieser alten Häuser zu stehen. Ich habe mich hier in Bremen schnell eingelebt, aber auch viel dafür getan: Schon gleich nach meiner Ankunft habe ich mehrere Sprachkurse besucht und war in einer Laientheatergruppe dabei. Regelmäßig bin ich damals in kleineren Rollen aufgetreten. Einmal sogar als eine Frau aus der Steinzeit! Das war lustig.
Als Zuschauerin gehe ebenfalls sehr gerne ins Theater. Das ein oder andere Mal als Teambildung mit meinen Angestellten, aber natürlich auch einfach nur mit meinen Freunden und Freundinnen. Am meisten imponiert hat mir bisher das Stück Vögel von Wajdi Mouawad, das dieses Jahr am hiesigen Theater aufgeführt wurde.
In Vögel geht es um eine sofort entfachte Liebe zwischen einer amerikanischen Araberin und einem israelischen Juden sowie um die Frage, welche Rolle unsere Herkunft und unsere Familiengeschichten spielen. Das war schwerer Stoff. Aber ich mochte es – und ich bin ja auch Familientherapeutin …
biografie Bei allen Unterschieden hat mich ein Teil der Geschichte in Vögel auch an meine eigene Biografie erinnert. Denn ich selbst gehe auch nicht immer offen mit meiner jüdischen Identität um. Häufig erwähne ich lediglich, dass meine Großmutter aus Polen kam. Dabei hatte sie einen Namen, der kaum jüdischer sein konnte: Golda Seidel.
Meine Großmutter mütterlicherseits kam aus einer wohlhabenden, sehr religiösen Familie in Lodz. Sie war eine Kämpferin, konnte Häuser bauen, war im Gymnasium und polyglott. Als junge Frau hat sie den Familienschmuck gestohlen, um damit ins sowjetische Russland zu fliehen und dort den Kommunismus zu unterstützen. Dabei wurde sie aber gefasst – und zur Strafe in ein Arbeitslager in Krasnowischersk am Uralgebirge gesteckt.
In Krasnowischersk hat sie meinen Großvater kennengelernt, einen 22 Jahre älteren Zahntechniker, der als ehemaliger NKWD-Spion ebenfalls dorthin geschickt wurde. »Ich bin mir nicht sicher, dass es eine Liebesbeziehung war, ich hatte keine andere Wahl«, erzählte meine Großmutter mir später. Nach Stalins Tod sind die beiden dann zurück nach Simferopol, die Hauptstadt der Krim, in der mein Großvater, der ursprünglich aus Moskau kam, nach der Revolution gelebt hatte. Auch ich bin in Simferopol zur Welt gekommen.
grossmutter Meine Großmutter erzählte mir immer schmunzelnd, dass ihre Tochter, meine Mutter, früher einen Goi geheiratet hat. Ihre große Liebe, sagte sie. Ein sehr hübscher Mann, der Bergsteiger war und Gitarre spielen konnte. Später hat sie nochmal geheiratet, einen Juden aus Odessa, der mein Papa ist.
Beide leben jetzt ebenfalls hier in Bremen, nur wenige Meter von meinem eigenen Haus entfernt. Oft gehe ich morgens mit meinem Hund spazieren und stehe im Garten unter dem Balkon meiner Eltern. Manchmal reden wir draußen, und ich bekomme einen Apfel vom Balkon gereicht. Dann fühle ich mich glücklich wie in der Kindheit.
Ich verstehe mich als Atheistin. An Feiertagen gehe ich aber gerne auch mal in die Synagoge.
Ich selbst verstehe mich ganz klar als Atheistin. An Feiertagen gehe ich aber gerne auch mal in die Synagoge. Ich mag die feierliche Atmosphäre dort, das Gemeinschaftsgefühl und den Klang der Gesänge in den Gottesdiensten.
traditionen Zu Hause versuche ich, einige Traditionen weiterzuführen. Kürzlich habe ich mir eine silberne Chanukkia fürs Regal gekauft, zudem habe ich traditionell bemalte Teller an der Wand aufgehängt. An Schabbat machen wir meistens ein gemeinsames Familienabendessen. Zwar ohne Gebete, aber mit traditionellem Essen, Wein und Kerzenzünden.Vielleicht koche ich bald auch Gerichte aus dem jüdischen Kochbuch, das mir die Kollegen kürzlich geschenkt haben.
Dass die ukrainische Küche und Literatur hier in Deutschland seit ein paar Monaten stärker wahrgenommen werden, freut mich. Die ukrainische Küche ist natürlich fantastisch, keine Frage. Ich liebe Wareniki mit Kirschen, die konnte schon meine Mutter besonders gut. Und mir fällt sofort der Spruch ein, dass der russische Schtschi fürs Überleben reicht – der ukrainische Borschtsch hingegen, der mit Schmalz, Knoblauch, Saurer Sahne und schwarzem Brot zubereitet wird, für den Genuss da ist.
Mit der Ukraine verbinde ich im Moment allerdings weniger Speisen oder Kultur, sondern vor allem den grausamen Krieg und die vielen Traumata, denen ich über meine Patienten in der Sprechstunde begegne.
zusammenleben Seit jeher interessiere ich mich für Psychiatrie, auch für Psychoanalyse, die mich fasziniert und von der wir viel über uns und unser Zusammenleben lernen können. Im Studium in Simferopol habe ich von meinem damaligen Professor ein tolles Gefühl von intellektueller Freiheit vermittelt bekommen. Von dieser Atmosphäre bin ich heute noch immer beeindruckt. Ich habe viel Freude an intellektuellen Auseinandersetzungen und der Entdeckung von Neuem. Ich freue mich, dass mein Mann, der ukrainischer Grieche ist, mich ermuntert, Hebräisch zu lernen.
Kürzlich habe ich mit meinem Hund eine Therapieausbildung gemacht.
Kürzlich habe ich mit meinem Hund eine Therapieausbildung gemacht und demnächst werde ich einen weiteren Praxisraum eröffnen. Er ist für analytische Familientherapie und die Therapie von Frühtraumata vorgesehen. Auf diese Erweiterung freue ich mich schon sehr. Ich will unbedingt bald einmal wieder nach Israel reisen. Bisher war ich erst einmal da, zu Besuch bei meiner Tante in Tel Aviv.
Mich hat diese Reise sehr fasziniert. In Israel hatte ich das Gefühl, dass alle Brüder und Schwestern sind, sich im Alltag helfen und solidarisch miteinander umgehen. Das kannte ich woanders in dieser Form nicht. Ich bin gespannt, wie ich Israel beim nächsten Mal wahrnehme. Was ich dort an Neuem entdecke.
Aufgezeichnet von Till Schmidt