Es ist ein Dienstagnachmittag in Chemnitz. Im Saal der jüdischen Gemeinde ist eine lange Tafel aufgebaut, an deren Ende Esther Shilo sitzt. Sie verteilt Schablonen aus Papier mit Pflanzen-, Tier- oder Judaica-Motiven. Die israelische Künstlerin hat zum Scherenschnitt-Workshop eingeladen und 20 Interessierte, überwiegend ältere Damen, sind gekommen. »Mit solchem Zuspruch habe ich gar nicht gerechnet. Ich habe doch nur 17 Scheren mitgebracht«, freut sich die Künstlerin über die Nachfrage.
Auf Chemnitz fiel die Wahl, weil hier neuerdings ihre Bekannte Hanna Wertheim lebt, die den Kontakt zur Gemeinde herstellte. »Esther wohnt in der Nähe von Haifa in Kiriyat Ata, unserem Nachbarort. Wir lieben beide Opern und haben uns so auf der Busfahrt ins Theater kennengelernt«, erinnert sich Hanna Wertheim an den Beginn der Freundschaft in Israel.
Geduld Auch während des Kurses vermittelt sie. Immer wieder muss Hanna Wertheim die Frage, wie viel Zeit denn für die Arbeit benötigt werde, für Esther Shilo ins Hebräische übersetzen. »Ein Künstler schaut nicht auf die Uhr«, antwortet die Scherenschneiderin dann. Das Anfertigen der Schablone sei der anstrengendere Teil. Manchmal arbeite sie streng symmetrisch. Das Papier wird dann an einer oder mehreren Achsen gefaltet, bevor geschnitten wird. Häufig benutze sie aber auch die Silhouetten-Technik, bei der zumindest einzelne Elemente des Scherenschnitts asymmetrisch angeordnet sind.
Wie sie ein Motiv entwirft, kann Esther Shilo nicht genau erklären: »Das kommt von allein. Wenn ich einen Bleistift in der Hand habe, male ich die ganze Zeit. Nehme ich dann ein religiöses Thema, weiß ich ja schon welche Motive hineinkommen.« Denkt sie also zum Beispiel an die heilige Stadt Jerusalem, wird der Löwe aus dem Stadtwappen sicher Teil des Bildes sein. Bis zu 500 Euro nimmt Esther Shilo für einen aufwendigen Bogen. Das verraten kleine weiße Preisschilder auf den ausgestellten Bildern in der Chemnitzer Gemeinde. Seit einigen Wochen zieren sie die Wände in der Stollberger Straße.
Shilo wurde 1952 geboren. Ihre Eltern hatten den Holocaust überlebt und waren 1948 aus der Tschechoslowakei nach Israel emigriert. Noch heute engagiert sich Esther Shilo, neben ihrer Arbeit als technische Sekretärin, in der jüdisch-tschechischen Gemeinde in Israel. In diesem Kunsthandwerk mit Papier und Schere entdeckte sie vor sieben Jahren ihre große Leidenschaft. Judaica-Motive berührten sie von Anfang an. Während sie amerikanische Scherenschneider besuchte, lernte sie florale und tierische Motive kennen. Inzwischen konnte sie ihre Kunstwerke schon in Israel, China, Tschechien und der Slowakei ausstellen. Nun zeigt sie ihre Papierwerke erstmalig in Deutschland.
konzentration Während die Werke der Meisterin im Hintergrund hängen, müssen sich die Teilnehmer des Workshops bei ihren ersten Versuchen noch konzentrieren. Sie benutzen ganz gewöhnliche Nagelscheren. »Ein Handwerk steht und fällt mit der Qualität des Werkzeugs«, meint der ehemalige Tischler Ernst Techentin und weist kritisch auf die Rundung seiner Schere hin, die eine kleine Kante aufweist. Der 77-Jährige ist Mitglied der Gemeinde. Seine Schneidekünste sind nicht nur an diesem Nachmittag gefragt: »Meine Frau soll für ihre Gesundheit morgens einen Apfel essen. Aber sie mag es nicht. Deshalb schnitze ich ihr jeden Tag ein lustiges Apfelmännlein.«
Obwohl Besucherin Eva Schweinberger sich gewöhnlich aus Basteln nichts macht, wurde sie durch eine Meldung in der Chemnitzer Tageszeitung auf den Workshop aufmerksam und neugierig. »Bei diesen kleinen Teilen merke ich, dass ich wohl mal wieder zum Optiker muss. Auch das Gefühl in den Fingern ist nicht mehr so da«, beobachtet die 69-Jährige nun bei der Arbeit. Erfreulicher findet sie es, mit den Tischnachbarn ein wenig zu plauschen.
kostenlos Wie Eva Schweinberger sind auch Lavinia Chianello und Roman Pilz zum ersten Mal in der jüdischen Gemeinde. Ein Aushang im Chemnitzer Kulturkaufhaus hat sie auf den Workshop aufmerksam gemacht. »Für unsere kleine Familie ist es natürlich günstig, dass der Kurs kostenlos ist«, erklärt Lavinia Chianello.
Während ihre Kleine neben ihnen im Kinderwagen schläft, beschäftigt sich das junge Paar also mit Ausschneiden aus dem hellen Karton. »Diese Kunst ist uns nicht fremd. Wir kennen zum Beispiel Filme der deutschen Scherenschneiderin Lotte Reiniger«, erzählt Roman Pilz. Neu ist ihnen aber, dass dieses Handwerk Teil der jüdischen Kultur ist. »In Israel wird die Kunst erst wiederentdeckt. Manche hängen sich Rosetten zu Schawuot ins Fenster«, erklärt Esther Shilo. Sie gibt eine Geschichte von früher wieder: »Mir wurde erzählt, dass zu Zeiten des Holocausts Scherenschnitte mit jüdischen Motiven dorthin gelegt wurden, wo Osten vermutet wurde, um in Richtung Jerusalems zu beten.«
Plötzlich beginnen die Scherenschneider zu applaudieren. Die erste Teilnehmerin hat ihr Kunsthandwerk fertig. Esther Shilo fragt sie nach dem Namen, übersetzt ihn ins Hebräische und schneidet die Buchstaben als Signatur in das Papier. Anschließend tupft sie auf die Rückseite Klebstoff und drückt das Bild auf einen farbigen Hintergrund. Die Teilnehmerin lächelt zufrieden. Wohl für die eigene Erinnerung an Deutschland schießt Esther Shilo ein Foto von ihr.