Porträt der Woche

»Mentale Knoten lösen«

»Es gibt immer wieder Phasen, in denen ich wie von oben auf mein Leben schaue«: Cathy Miller in Frankfurt am Main Foto: Judith König

Es kommt eine neue Zeit auf mich zu. Vieles wird anders werden. Mein Sohn Gianni hat jetzt das Abitur. Früher war es so, dass er am Freitag nach Hause kam. Er ging auf ein Internat und war nur am Wochenende bei uns in Frankfurt. Den Freitagabend haben wir immer zusammen verbracht – entweder im kleinen Kreis oder mit Freunden.

Ich beschäftige mich sehr mit der Frage, was mein Sohn machen wird. Gianni ist jetzt erwachsen und wird seinen Weg gehen. Das ist ein Einschnitt in meinem Leben. Ich bin gespannt auf das, was kommt. Das Neue ist schön. Ich habe gelernt, das Leben als Geschenk anzusehen, es bewusst zu leben. Es gibt immer wieder Phasen, in denen ich wie von oben auf mein Leben schaue. Das gelingt mir beim Joggen ganz gut. Beim Laufen lösen sich mentale Knoten, ich kann dabei Ideen entwickeln. In der Regel jogge ich zweimal in der Woche, immer am Morgen – meistens montags und freitags. Das Laufen ist mir sehr wichtig, ich brauche das.

Werbebranche Ich habe Betriebswirtschaft studiert und bin danach in die Werbebranche gegangen – auch weil ich gehofft habe, auf weltoffene Menschen zu treffen. Ich wollte in einem Umfeld arbeiten, in dem ich nicht verstecken muss, dass ich jüdisch bin. Ich habe bei Saatchi & Saatchi in Frankfurt angefangen und danach viele Jahre bei einer anderen großen Agentur gearbeitet.

Es hat mir in der Werbebranche allerdings nicht so gut gefallen. Zwar gibt es dort viele liberale Menschen, aber viele andere sind sehr elitär. Ich fand Leute, die ich mochte, aber richtig wohlgefühlt habe ich mich in dem Kreis nicht – es war mir oft zu oberflächlich. Nach zwölf Jahren habe ich dann die Branche gewechselt und mich als Beraterin selbstständig gemacht.

Ich habe mehrere Standbeine: Seit zwei Jahren kümmere ich mich um den Internetauftritt der Lichtigfeld-Schule und bin für Teilbereiche der Kommunikation zuständig. Ich bin selbst auf diese Schule gegangen, ich bin ein Kind der Gemeinde. Also freue ich mich, dass ich etwas zurückgeben kann.

Tradition Die Lichtigfeld-Schule ist ein ganz wichtiges Element der Gemeinde: Sie ist ihre Zukunft! Auf dieser Schule bekommen die Kinder ein jüdisches Bewusstsein. Sie lernen eine mit dem Judentum verbundene Tradition kennen. Ich finde es schön zu sehen, wie sich in den nächsten Generationen fortsetzt, was ich selbst erlebt habe.

Mein zweites Standbein ist das Marketing. Ich arbeite zum Teil für große Unternehmen wie Milupa, leite sogenannte lösungsorientierte Marketing- und Strategie-Workshops. Das heißt, Firmen treten auf mich zu mit Fragen wie: »Gibt es einen Markt für ein bestimmtes Produkt?«, »Wie muss die Vermarktung des Produkts aussehen?« oder »Wie kriegen wir es hin, ein bestimmtes Getränk auf dem Markt zu platzieren?«

Zu diesen Fragen entwickele ich ein Workshop-Konzept, zu dem auch Techniken zur Kreativitätsförderung gehören, und arbeite dann mit dem Firmenteam in ein- bis dreitägigen Workshops an der Aufgabenlösung. Oft handelt es sich um Projekte mit Beteiligten aus unterschiedlichen Ländern. Dann gilt es, je nach Aufgabenstellung, eine Lösung zu entwickeln, die alle zufriedenstellt und den Bedürfnissen der Konsumenten in den jeweiligen Ländern entspricht.

Arbeit Meine Woche ist geprägt von Arbeit, Sport, Haushalt und Freizeitaktivitäten – mit meinem Freund, Freundinnen oder allein. Ich mag Kino, ich gehe gern in Museen, und ich liebe es zu reisen: Ich finde es ganz toll, Städte zu Fuß zu erkunden.

Ich arbeite zum Teil im Büro meiner Auftraggeber oder von meinem Homeoffice aus. Das kann manchmal eintönig sein. Daher plane ich möglichst häufig Mittagessen und verbinde dies mit privaten Verabredungen und beruflichen Treffen.

Ich bin Tochter von Holocaust-Überlebenden. Meine Mutter stammt aus einer alteingesessenen Wiener Familie. Im Krieg mussten meine Großeltern fliehen, deshalb ist meine Mutter in Belgien aufgewachsen. Mein Vater stammt aus einer polnischen Familie mit elf Kindern. Ein Teil der Familie hat überlebt. Ich bin sehr dankbar dafür. Als Kind war ich mit meinem Bruder und meinen Eltern jedes Jahr während der Pessachferien in Israel, um die Verwandten zu besuchen. Bis heute sind mein Bruder und ich eng mit unseren Cousins und Cousinen dort verbunden. Und auch in der Generation unserer Kinder setzt sich das fort. Das ist ein großes Verdienst unserer Eltern.

Mein Vater war nach der Schoa nach Israel gegangen und hatte versucht, dort Fuß zu fassen. Das ist ihm aber nicht gelungen, daher kam er nach Deutschland. Hier wollte er die Basis schaffen, um eine Familie zu gründen. In Belgien hat er meine Mutter kennengelernt, sie haben dann geheiratet und sich für ein Leben in Deutschland entschieden. So wurde ich 1965 in Frankfurt geboren. Fünf Jahre später kam dann mein Bruder zur Welt. Wir saßen nicht auf gepackten Koffern – ich habe es jedenfalls nie so empfunden. Wir waren hier zu Hause – aber immer mit einer tiefen Verbindung zu Israel.

Gymnasium Als ich in die Oberstufe kam – ich ging auf ein humanistisches Gymnasium –, begannen die Konflikte mit meinen Eltern. Es ging um die Frage, wie man hier als Jude leben und zu wem man Kontakt pflegen soll und kann. Für mich war klar, dass ich nicht in Deutschland leben kann, ohne Kontakt zu nichtjüdischen Menschen zu haben. Meine Eltern hingegen bewegten sich privat ausschließlich in jüdischen Kreisen – das war für sie kein Widerspruch. Ich habe das nicht verstanden. Es war eine konfliktreiche Zeit, denn zur zweiten Generation zu gehören, ist damit verbunden, die Erwartungen der Eltern zu erfüllen.

Second-Generation-Kind zu sein, bedeutet auch, sich mit den Identitäten auseinanderzusetzen, die einem aufgedrückt werden. Ich habe meinen Weg gefunden. Es gab eine Plattform, die für meine Identitätsbildung wichtig war: die Zionistische Jugend in Deutschland (ZJD). Da waren alle meine Freunde, es ging sehr lebendig zu. Ich war erst Gruppenmitglied, dann Gruppenleiterin. Wir haben uns die Frage gestellt, was uns Israel und was uns Deutschland bedeutet und was das alles mit unserer Identität zu tun hat.

Während des Studiums beschloss ich, mich nicht so sehr von den Restriktionen meiner Eltern beeinflussen zu lassen. Das hat mir geholfen, mich auch mental auf nichtjüdische Menschen einzulassen. Aus der ZJD und Schulzeit sind immer noch Freundschaften erhalten, die bis heute ein wichtiger Bestandteil meines Lebens sind. So treffe ich mich donnerstags immer mit meinen alten Freundinnen zum Frühstück in einem bestimmten Lokal. Es sind Frauen, die ich seit mehr als 35 Jahren kenne. Unsere Kinder sind zusammen aufgewachsen und zum Teil eng befreundet. Das ist für uns alle ganz wunderbar.

Ich denke, dass ich ein ganz reiches Leben habe: leider geprägt von vielen tiefen Einschnitten und Verlusten durch den frühen Tod meiner Eltern und meines Mannes. Gianni und ich haben die Erfahrung gemacht, durch die Familie, alte Freunde und neu gewachsene Beziehungen, zum Teil aus dem beruflichen Umfeld, auch in schwierigen Phasen sehr getragen zu werden. Es ist ein gutes Gefühl, dass ich selbst sehr klar mit meinen jüdischen Wurzeln verbunden bin, mich aber gleichzeitig öffne und als »Brückenbauerin« auch Nichtjuden unsere Lebenswelt transparent mache – ohne belehrend zu sein.

Aufgezeichnet von Canan Topçu

Berlin

»Wir sind bitter enttäuscht«

Nach den höchst umstrittenen Wahlen in der Jüdischen Gemeinde zogen die Kritiker nun vor Gericht. Doch das fühlt sich nicht zuständig – und weist die Klage ab

von Mascha Malburg  15.01.2025

Forschung

Vom »Wandergeist« einer Sprache

Die Wissenschaftlerinnen Efrat Gal-Ed und Daria Vakhrushova stellten in München eine zehnbändige Jiddistik-Reihe vor

von Helen Richter  14.01.2025

Nachruf

Trauer um Liam Rickertsen

Der langjährige Vorsitzende von »Sukkat Schalom« erlag seinem Krebsleiden. Er war ein bescheidener, leiser und detailverliebter Mensch

von Christine Schmitt  14.01.2025

Porträt der Woche

Keine Kompromisse

Rainer R. Mueller lebt für die Lyrik – erst spät erfuhr er von seiner jüdischen Herkunft

von Matthias Messmer  12.01.2025

Familien-Schabbat

Für den Zusammenhalt

In den Synagogen der Stadt können Kinder und Eltern gemeinsam feiern. Unterstützung bekommen sie nun von Madrichim aus dem Jugendzentrum »Olam«

von Christine Schmitt  12.01.2025

Köln

Jüdischer Karnevalsverein freut sich über großen Zulauf

In der vergangenen Session traten 50 Neumitglieder dem 2017 gegründeten Karnevalsverein bei

 11.01.2025

Vorsätze

Alles neu macht der Januar

Vier Wochen Verzicht auf Fleisch, Alkohol und Süßes? Oder alles wie immer? Wir haben Jüdinnen und Juden gefragt, wie sie ihr Jahr begonnen haben und ob sie auf etwas verzichten

von Brigitte Jähnigen, Christine Schmitt, Katrin Richter  09.01.2025

Würdigung

»Vom Engagement erzählen«

Am 10. Januar laden Bundespräsident Steinmeier und seine Frau zum Neujahrsempfang. Auch die JSUD-Inklusionsbeauftragte Jana Kelerman ist dabei

von Katrin Richter  09.01.2025

Gedenktag

Uraufführung mit den »Violins of Hope«

Ein besonderes Konzert anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz hat sich das Rundfunk-Sinfonieorchester vorgenommen. Es interpretiert ein Werk für die Geigen, die die Schoa überstanden haben

von Christine Schmitt  08.01.2025