Es kommt eine neue Zeit auf mich zu. Vieles wird anders werden. Mein Sohn Gianni hat jetzt das Abitur. Früher war es so, dass er am Freitag nach Hause kam. Er ging auf ein Internat und war nur am Wochenende bei uns in Frankfurt. Den Freitagabend haben wir immer zusammen verbracht – entweder im kleinen Kreis oder mit Freunden.
Ich beschäftige mich sehr mit der Frage, was mein Sohn machen wird. Gianni ist jetzt erwachsen und wird seinen Weg gehen. Das ist ein Einschnitt in meinem Leben. Ich bin gespannt auf das, was kommt. Das Neue ist schön. Ich habe gelernt, das Leben als Geschenk anzusehen, es bewusst zu leben. Es gibt immer wieder Phasen, in denen ich wie von oben auf mein Leben schaue. Das gelingt mir beim Joggen ganz gut. Beim Laufen lösen sich mentale Knoten, ich kann dabei Ideen entwickeln. In der Regel jogge ich zweimal in der Woche, immer am Morgen – meistens montags und freitags. Das Laufen ist mir sehr wichtig, ich brauche das.
Werbebranche Ich habe Betriebswirtschaft studiert und bin danach in die Werbebranche gegangen – auch weil ich gehofft habe, auf weltoffene Menschen zu treffen. Ich wollte in einem Umfeld arbeiten, in dem ich nicht verstecken muss, dass ich jüdisch bin. Ich habe bei Saatchi & Saatchi in Frankfurt angefangen und danach viele Jahre bei einer anderen großen Agentur gearbeitet.
Es hat mir in der Werbebranche allerdings nicht so gut gefallen. Zwar gibt es dort viele liberale Menschen, aber viele andere sind sehr elitär. Ich fand Leute, die ich mochte, aber richtig wohlgefühlt habe ich mich in dem Kreis nicht – es war mir oft zu oberflächlich. Nach zwölf Jahren habe ich dann die Branche gewechselt und mich als Beraterin selbstständig gemacht.
Ich habe mehrere Standbeine: Seit zwei Jahren kümmere ich mich um den Internetauftritt der Lichtigfeld-Schule und bin für Teilbereiche der Kommunikation zuständig. Ich bin selbst auf diese Schule gegangen, ich bin ein Kind der Gemeinde. Also freue ich mich, dass ich etwas zurückgeben kann.
Tradition Die Lichtigfeld-Schule ist ein ganz wichtiges Element der Gemeinde: Sie ist ihre Zukunft! Auf dieser Schule bekommen die Kinder ein jüdisches Bewusstsein. Sie lernen eine mit dem Judentum verbundene Tradition kennen. Ich finde es schön zu sehen, wie sich in den nächsten Generationen fortsetzt, was ich selbst erlebt habe.
Mein zweites Standbein ist das Marketing. Ich arbeite zum Teil für große Unternehmen wie Milupa, leite sogenannte lösungsorientierte Marketing- und Strategie-Workshops. Das heißt, Firmen treten auf mich zu mit Fragen wie: »Gibt es einen Markt für ein bestimmtes Produkt?«, »Wie muss die Vermarktung des Produkts aussehen?« oder »Wie kriegen wir es hin, ein bestimmtes Getränk auf dem Markt zu platzieren?«
Zu diesen Fragen entwickele ich ein Workshop-Konzept, zu dem auch Techniken zur Kreativitätsförderung gehören, und arbeite dann mit dem Firmenteam in ein- bis dreitägigen Workshops an der Aufgabenlösung. Oft handelt es sich um Projekte mit Beteiligten aus unterschiedlichen Ländern. Dann gilt es, je nach Aufgabenstellung, eine Lösung zu entwickeln, die alle zufriedenstellt und den Bedürfnissen der Konsumenten in den jeweiligen Ländern entspricht.
Arbeit Meine Woche ist geprägt von Arbeit, Sport, Haushalt und Freizeitaktivitäten – mit meinem Freund, Freundinnen oder allein. Ich mag Kino, ich gehe gern in Museen, und ich liebe es zu reisen: Ich finde es ganz toll, Städte zu Fuß zu erkunden.
Ich arbeite zum Teil im Büro meiner Auftraggeber oder von meinem Homeoffice aus. Das kann manchmal eintönig sein. Daher plane ich möglichst häufig Mittagessen und verbinde dies mit privaten Verabredungen und beruflichen Treffen.
Ich bin Tochter von Holocaust-Überlebenden. Meine Mutter stammt aus einer alteingesessenen Wiener Familie. Im Krieg mussten meine Großeltern fliehen, deshalb ist meine Mutter in Belgien aufgewachsen. Mein Vater stammt aus einer polnischen Familie mit elf Kindern. Ein Teil der Familie hat überlebt. Ich bin sehr dankbar dafür. Als Kind war ich mit meinem Bruder und meinen Eltern jedes Jahr während der Pessachferien in Israel, um die Verwandten zu besuchen. Bis heute sind mein Bruder und ich eng mit unseren Cousins und Cousinen dort verbunden. Und auch in der Generation unserer Kinder setzt sich das fort. Das ist ein großes Verdienst unserer Eltern.
Mein Vater war nach der Schoa nach Israel gegangen und hatte versucht, dort Fuß zu fassen. Das ist ihm aber nicht gelungen, daher kam er nach Deutschland. Hier wollte er die Basis schaffen, um eine Familie zu gründen. In Belgien hat er meine Mutter kennengelernt, sie haben dann geheiratet und sich für ein Leben in Deutschland entschieden. So wurde ich 1965 in Frankfurt geboren. Fünf Jahre später kam dann mein Bruder zur Welt. Wir saßen nicht auf gepackten Koffern – ich habe es jedenfalls nie so empfunden. Wir waren hier zu Hause – aber immer mit einer tiefen Verbindung zu Israel.
Gymnasium Als ich in die Oberstufe kam – ich ging auf ein humanistisches Gymnasium –, begannen die Konflikte mit meinen Eltern. Es ging um die Frage, wie man hier als Jude leben und zu wem man Kontakt pflegen soll und kann. Für mich war klar, dass ich nicht in Deutschland leben kann, ohne Kontakt zu nichtjüdischen Menschen zu haben. Meine Eltern hingegen bewegten sich privat ausschließlich in jüdischen Kreisen – das war für sie kein Widerspruch. Ich habe das nicht verstanden. Es war eine konfliktreiche Zeit, denn zur zweiten Generation zu gehören, ist damit verbunden, die Erwartungen der Eltern zu erfüllen.
Second-Generation-Kind zu sein, bedeutet auch, sich mit den Identitäten auseinanderzusetzen, die einem aufgedrückt werden. Ich habe meinen Weg gefunden. Es gab eine Plattform, die für meine Identitätsbildung wichtig war: die Zionistische Jugend in Deutschland (ZJD). Da waren alle meine Freunde, es ging sehr lebendig zu. Ich war erst Gruppenmitglied, dann Gruppenleiterin. Wir haben uns die Frage gestellt, was uns Israel und was uns Deutschland bedeutet und was das alles mit unserer Identität zu tun hat.
Während des Studiums beschloss ich, mich nicht so sehr von den Restriktionen meiner Eltern beeinflussen zu lassen. Das hat mir geholfen, mich auch mental auf nichtjüdische Menschen einzulassen. Aus der ZJD und Schulzeit sind immer noch Freundschaften erhalten, die bis heute ein wichtiger Bestandteil meines Lebens sind. So treffe ich mich donnerstags immer mit meinen alten Freundinnen zum Frühstück in einem bestimmten Lokal. Es sind Frauen, die ich seit mehr als 35 Jahren kenne. Unsere Kinder sind zusammen aufgewachsen und zum Teil eng befreundet. Das ist für uns alle ganz wunderbar.
Ich denke, dass ich ein ganz reiches Leben habe: leider geprägt von vielen tiefen Einschnitten und Verlusten durch den frühen Tod meiner Eltern und meines Mannes. Gianni und ich haben die Erfahrung gemacht, durch die Familie, alte Freunde und neu gewachsene Beziehungen, zum Teil aus dem beruflichen Umfeld, auch in schwierigen Phasen sehr getragen zu werden. Es ist ein gutes Gefühl, dass ich selbst sehr klar mit meinen jüdischen Wurzeln verbunden bin, mich aber gleichzeitig öffne und als »Brückenbauerin« auch Nichtjuden unsere Lebenswelt transparent mache – ohne belehrend zu sein.
Aufgezeichnet von Canan Topçu