Als ich Anfang der 90er-Jahre nach Berlin kam, habe ich mich den Leuten in meiner WG als kalifornischer Dada-Jazztrompeter vorgestellt. Meine Familiengeschichte behielt ich aber lieber für mich. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, mich als Jude vorzustellen.
Als das Jüdische Museum Berlin Jahrzehnte später eine Ausstellung unter dem Titel A wie Jüdisch zeigte, zu der Künstler und Künstlerinnen eingeladen wurden, die in ihrem Wirken ihre jüdische Identität reflektieren, wurde auch ich eingeladen. Dabei habe ich mich gefragt, wie ich vom Dada-Jazztrompeter zum jüdischen Künstler wurde. Und natürlich, was zwischen damals und heute passiert ist?
Meine frühesten Erinnerungen stammen aus den 70er-Jahren und haben mit einer Vorstadt im nördlichen Kalifornien zu tun. Und was das Jüdische angeht, so entsinne ich mich, davon gehört zu haben, dass die Familie meines Vaters vor dem russischen Zaren geflohen war. Mein Vater selbst war noch in einem streng orthodoxen Haushalt aufgewachsen und hatte sich geschworen, seine Kinder nicht mit Religion zu belästigen. Für ihn bestand das Judentum vor allem darin, diesem Klub anzugehören.
Meine Mutter war in Wien geboren. Sie ist mit ihrem Bruder 1938 in einem Kindertransport nach England und nach dem Krieg in die USA gekommen. Sie hat immer gesagt, dass es keinen Gott geben könne, wenn so etwas wie die Schoa geschehen konnte. Meine Eltern haben sich zwar beide als Juden definiert, Gott dabei aber außen vor gelassen.
Studium der Trompete am New England Conservatory of Music in Boston
Nach der Highschool besuchte ich das New England Conservatory of Music in Boston, um Trompete zu studieren. Einer meiner Professoren leitete die Klezmer Conservatory Band. Als sie Mitte der 80er-Jahre einen Ersatztrompeter gesucht hatten, bin ich eingesprungen. Zu dieser Zeit erzählte mir meine Mutter, dass mein Großvater eine Autobiografie geschrieben habe, die nicht ganz jugendfrei sei. Sie sprach von einer »dirty autobiography«. Ich konnte das nicht lesen, weil es auf Deutsch geschrieben war, und so entstand der Wunsch, diese Sprache zu lernen. Kurz nach meinem Studium tourte ich als Trompeter in einer Broadway-Show durch Europa.
Dabei lernte ich auch einige Musiker und Musikerinnen aus Berlin kennen, die mich darin bestärkten, nach Deutschland zu gehen. Nun hatte ich in den USA ja schon ein wenig Klezmer kennengelernt. Ich mochte diese Musik, aber ich hätte mich nie getraut, sie auf der Bühne zu spielen, weil ich mich dafür nicht ausreichend jüdisch fühlte. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich acht Soloalben mit jüdisch orientierter Musik veröffentlichen würde, hätte ich ihn ausgelacht.
Dass ich acht Soloalben mit jüdisch orientierter Musik herausbringe, hätte ich nicht gedacht.
Doch als ich in Berlin mein erstes Jazz-album aufnahm, lernte ich durch Zufall Joel Rubin kennen, der im Studio nebenan an einem traditionellen Klezmer-Album arbeitete. Später kam ich dank genau dieser CD mit verschiedenen Melodien dieses Genres in Berührung und nahm bei Joel Rubin sogar Klezmer-Unterricht. Genau das bot mir die Chance, mich durch die Musik mit jüdischer Kultur zu verbinden. Der amerikanische Komponist und Produzent John Zorn, der viel mit zeitgenössischer jüdischer Musik experimentierte, hat mir schließlich angeboten, meine Aufnahmen auf seinem Tzadik-Label in der Reihe »Radical Jewish Culture« herauszubringen. Jetzt war auch ich ein Mitglied im Klub!
Bewerbung an Berliner Musikschulen
Im Jahr 1995 bewarb ich mich an einigen Berliner Musikschulen, und weil es schon genügend Trompetenlehrkräfte gab, bot ich an, Klezmer zu unterrichten. Innerhalb einer Woche hatte ich Arbeit. An der Volkshochschule im Berliner Bezirk Wedding waren die Studierenden eher älter und begeistert, das spielen zu lernen, was sie sich unter echtem Klezmer vorstellten. Beim Abschlusskonzert am Ende des Semesters wollte man sogar auf Mikrofone verzichten, weil der traditionelle Klezmer auch ohne welche ausgekommen sei. Für sie hatte das Spielen von jüdischer Musik etwas mit der Bewältigung des Holocaust zu tun, also mit ihrer eigenen Vergangenheit oder der ihrer Eltern.
Das Klezmer-Ensemble an der Hanns Eisler-Hochschule bestand aus jungen Studierenden aus der Jazzabteilung, die die Musik aus dem Kontext des Jazz für sich entdeckt hatten. Sie assoziierten die jüdische Musik mit New York City und mit Avantgarde. Ich weiß nicht, was mich mehr verwundert hat: der mangelnde Respekt der Jungen gegenüber der Geschichte oder das unbewältigte Schuldgefühl der älteren Gruppe. Für mich, den Sohn einer jüdisch-amerikanischen Flüchtlingsfamilie, waren die Melodien zu einem Zuhause geworden, zu einem Gefühl, Jude zu sein.
Ich hatte Auftritte in Europa, den USA und Kanada. Bald stellte ich fest, dass ich für viele in meinem deutschen Publikum nicht Paul der Trompeter war oder Paul der Komponist. Ich war in erster Linie Paul der Jude. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich exotisch, und exotische Typen bekommen Gigs, bekommen Presse. Mir war es ziemlich egal, dass nach den Konzerten immer die gleichen Fragen nach »cultural ownership« gestellt wurden. Die anderen Jazzer wurden nach Rhythmus und Tonalität gefragt. Mich aber fragte man, wie es meine Mutter auf den Kindertransport geschafft hat.
Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass es nicht allein genügt, diese jüdische Musik zu spielen. Sie musste mit mehr Informationen und Wissen über das Judentum begleitet werden. In dieser Situation habe ich mich an die Rabbinerin Ulrike Offenberg gewandt. Sie hat mir Tora-Unterricht erteilt, und ich habe bei ihr Hebräisch gelernt. Wir haben uns auch mit der Bedeutung von verschiedenen Traditionen beschäftigt. Es ist nicht so, dass das alles vollkommen neu für mich gewesen wäre, aber sie hat vieles auf den Punkt gebracht. Als ich meiner Mutter davon erzählte, fand sie, die nichts mit Religion zu tun hatte, das alles sehr amüsant.
Auf das vertrauen, was kommen wird
Mein Gefühl als jüdischer Mensch ist immer dann am stärksten, wenn ich komponiere oder auf der Trompete improvisiere. Jeden Tag suche ich nach neuen Tonfolgen, und fast immer bekomme ich einen emotionalen Zugang durch Bilder aus der Tora. Sehr oft ist es das Bild vom biblischen Jakob, der eine ganze Nacht lang in der Dunkelheit mit dem Engel ringt, ohne zu wissen, mit wem er diesen Kampf austrägt. Dann erhält er den Namen Israel, und er wird ein neuer Mensch. Für mich bedeutet das, auf das zu vertrauen, was kommen wird. Das ist fast ein meditativer Vorgang, und ich glaube, dass das auch mich zu einem anderen Menschen macht.
Die schönste Herausforderung war für mich die Zusammenarbeit mit dem Utopia-Orchester.
Inzwischen habe ich für große Orchester komponiert, zum Beispiel für die Opéra National de Lorraine, die Badische Staatsoper, aber auch für den Popsänger Clueso. Die schönste Herausforderung aber war für mich die Zusammenarbeit mit dem Utopia-Orchester, in das auch Musiker und Musikerinnen mit körperlichen und mentalen Beeinträchtigungen integriert sind. Dies war für mich insofern interessant, weil ich in der Komposition nicht nur das Niveau der Musizierenden, sondern auch deren spezifischen Eigenheiten berücksichtigen musste.
Die Orchestermitglieder trugen auch die Idee an mich heran, ihre Erfahrungen mit der Berliner Mentalität musikalisch auszudrücken. Das Thema hieß: Wie klingt eigentlich die Berliner Schnauze? Meine Aufgabe war es, hierfür eine Musik zu finden, die sowohl für sie spannend zu spielen war, als auch das Publikum ansprach. Heraus kam meine »Berliner Suite«, die unlängst mit Erfolg im Grips-Theater uraufgeführt wurde.
Tätigkeit als Kurator
Aus dieser Zusammenarbeit ergab es sich, dass ich von »Kulturleben Berlin«, einem Verein für Inklusionskunstprojekte, gebeten wurde, als Kurator tätig zu werden. Außerdem habe ich mit visuellen Künstlern und Künstlerinnen des Ramba Zamba gearbeitet. Die Gruppe ist vor allem für ihre Theaterinszenierungen bekannt, hat aber auch eine fantastische Kunstabteilung!
Klezmer liebe ich noch immer. Aber ich habe das Gefühl, dass ich es nicht mehr spielen muss, um mich jüdisch zu fühlen. Jeder Ton, der aus meiner Trompete kommt, egal in welchem Stil, ist jüdisch. Es ist ein ständiges Suchen und Fragen in Klangform. Und das Fragen ist ein so starker Teil davon, dass ich manchmal das Gefühl habe, das Symbol für das Judentum sollte nicht der Davidstern sein, sondern ein Fragezeichen. Ich blicke zurück auf die Jahre in Berlin und frage mich: Wäre das alles auch passiert, wenn die Autobiografie meines Großvaters mich nicht dazu inspiriert hätte, Deutsch zu lernen?
Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg