Stella Perevalova ist klassische Konzertpianistin. Ihre Ausbildung erhielt sie am renommierten Moskauer Gnessin-Institut und an der Hochschule der schönen Künste in der russischen Hauptstadt. Klaviervirtuose Jewgeni Kissin war ihr Mitschüler. Oft wird sie gefragt, warum sie nicht Solokonzerte gibt. »Das sollen diejenigen machen, die das am besten können. Denn was ich mache, können die anderen nicht«, antwortet sie.
Perevalova treibt der Wunsch, jüdische Musik bekannt zu machen. Und für dieses Ziel ist die 46-Jährige fast rund um die Uhr im Einsatz. Wenn sie nicht an ihrer eigenen Musikakademie in Hannover Unterricht erteilt, mit Schülern oder Senioren singt oder mit ihrer Duo-Partnerin Elena Kondraschowa arbeitet, ist sie in der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover anzutreffen. Dort leitet sie seit Mitte November den Chor. Wie sie das alles schafft? Stella Perevalova lacht: »Ich bin liberal und selbstständig. Selbst ständig im Einsatz – auch samstagabends und sonntags.«
Glück Für die jüdischen Gemeinden sind solche Künstlerinnen ein großes Glück. Hervorragend ausgebildet, bringen viele von ihnen ihr Wissen und ihre Leidenschaft für die Musik ehrenamtlich in die Gemeindearbeit ein. Ohne sie blieben die Chöre hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Dank engagierter Musikerinnen wie Stella Perevalova in Hannover, Taisa Leyenson in Chemnitz sowie Ekaterina Kulakova und Ursula Philipp-Drescher in Dresden, sind die Chöre vieler jüdischer Gemeinden zu ihrem Aushängeschild geworden. Ihre Auftritte machen sie zu Botschaftern jüdischer Kultur. Dabei gehen die ehrenamtlichen Chorleiter und Musiker mit Energie zu Werke. »Ich mache keine halben Sachen«, stellt Stella Perevalova fest.
Wie ihre Kollegin in Hannover verbringt auch Taisa Leyenson in Chemnitz viele Stunden pro Woche mit der Auswahl des Repertoires für ihren Chor. Immerhin 20 Auftritte außerhalb der Jüdischen Gemeinde absolvierte der Chemnitzer Chor »Schir Semer« im vergangenen Jahr. Alle Arrangements macht Taisa Leyenson, die man in der Jüdischen Gemeinde nur Taya nennt, selbst. Zufrieden ist die an der Kunsthochschule Minsk ausgebildete Chorleiterin und Musiklehrerin erst, wenn alles perfekt ist. In ihrer weißrussischen Heimat gehörte sie zu den Top Ten der Chorleiter. Leyenson ist eine freundliche Dame, aber wenn sie vor ihren 25 Sängerinnen und Sängern steht, lässt sie keinen Zweifel daran, wer den Ton angibt. Ein Blick von ihr genügt, um jeden zur Räson zu bringen.
»Ja, ich bin streng während der Proben«, sagt auch Ekaterina Kulakova über sich selbst. »Aber nur, weil ich etwas Gutes erreichen will. Wenn die Leute das verstehen, ziehen sie auch mit.« Die Pianistin spielt in der Jüdischen Gemeinde Dresden Orgel und Klavier, begleitet den Synagogenchor und unterrichtet Kinder und jugendliche Sänger. Ihr Ziel ist es, bei den Laienmusikern Lust auf die Bühne zu wecken. Ein bisschen Nervosität vor den Auftritten sei ganz gut: »Kühler Kopf, heißes Herz«, beschreibt Kulakova den Idealzustand eines Musikers. Es gebe keine bessere Möglichkeit, Emotionen zu leben und zu teilen, als die Musik, meint sie. »Wenn man singt oder spielt, ist man in einer anderen Welt. Musik ist wie eine Droge. Wer einmal davon probiert hat, kommt nicht wieder davon los.«
musikalische Eltern Ekaterina Kulakova wuchs in Omsk in Sibirien auf. Ihre Eltern lernten sich auf der Musikhochschule kennen; ihre Mutter ist ebenfalls Pianistin, ihr Vater Orchestermusiker. »Mein Schlaflied als kleines Kind waren die Etüden von Chopin.« Keine Frage, dass auch Ekaterina die Musikerlaufbahn einschlagen würde. 17 Jahre dauerte ihre Ausbildung. Schon als Kind übte sie täglich stundenlang Klavier. Mit deutschen Musik- schulen kann sie wenig anfangen: »Eine halbe Stunde pro Woche Klavierspielen – das ist Quatsch.«
Ursula Philipp-Drescher, die bereits seit den späten 80er-Jahren den Dresdner Synagogenchor leitet, studierte Gesang an der Hochschule für Musik Leipzig. »Die Jahre davor waren schwer«, erinnert sie sich. Denn eine richtige musikalische Ausbildung genoss die gesangsbegeisterte Ursula erst als Teenager mit dem Wechsel auf die Erweiterte Oberschule. Den entscheidenden Moment ihrer musikalischen Laufbahn erlebte sie als junge Studentin im Leipziger Synagogalchor unter der Leitung von Oberkantor Werner Sander. Bereits die erste Probe sollte ihr Leben verändern. Sie erinnert sich: »Es war, als hätte mir jemand auf die Schulter getippt und gesagt: Da geht’s lang.«
Sanders Bearbeitungen nutzt sie bis heute für ihre Arbeit mit dem Dresdner Synagogenchor. Den leitet sie mit Herzblut: »Ich freue mich auf jede Probe.« Obwohl sie vor jedem Konzert aufgeregt sei, habe sie großes Vertrauen in ihre Gruppe – und werde sehr selten enttäuscht. Philipp-Drescher weiß, dass es für viele Chormitglieder schwierig ist, sich die Zeit für die Proben zu nehmen – vor Konzerten immerhin mindestens sechs Stunden pro Woche.
Auch Taisa Leyenson in Chemnitz kennt die Mühen, die gerade die betagten Sänger – der älteste ist 84 – auf sich nehmen, um zu den Proben und Aufführungen zu kommen. Aber niemand wirft die Flinte ins Korn. »Das sind alles super Leute. Viele erarbeiten sich die Stücke, obwohl sie nicht einmal Noten lesen können. Ohne meinen Chor wäre ich nichts«, sagt die 64-Jährige.
Das Repertoire des Chemnitzer Chores reicht von jüdischen Gebeten über Operettenmelodien bis zum Gospel. Zur jüdischen Musik kam die Profi-Musikerin aus Weißrussland erst vor gut zehn Jahren in Deutschland. »Für mich war das eine Neuentdeckung.«
schlager Genauso erging es Stella Perevalova in Hannover – und für sie war die jüdische Musik »Liebe auf den ersten Ton«. Ein Projekt, das ihr besonders am Herzen liegt, ist die »Verbotene Musik des Dritten Reichs«. Die Pianistin und ihre Duo-Partnerin Elena Kondraschowa haben einen Katalog mit Musikstücken ausgegraben, die unter der Nazi-Herrschaft tabu waren. Aus diesem Konvolut stellen sie das Konzertrepertoire für ihr »Stellena Duo« zusammen. Viel Schlager- und Unterhaltungsmusik ist dabei. »Diese Musik war auch auf der Musikhochschule in Moskau verpönt. Aber was verboten ist, reizt am meisten. Heute lebe ich für diese Musik und mit ihr«, erzählt Perevalova begeistert.
Auch mit dem Chor der Gemeinde möchte sie Schlagermusik erarbeiten. »Mein kleiner grüner Kaktus« zum Beispiel. Aber auch Stücke aus der Dreigroschenoper. »Ich will frischen Wind in den Chor bringen und hoffe, dass dann auch mehr junge Leute zu uns kommen.« Experimentieren und ausprobieren heißt ihre Devise. Ein paar schiefe Töne oder Sprechgesang dürfen ruhig sein. Hauptsache, alle sind mit Freude bei der Sache. »Wenn man Spaß hat, kann es nicht ganz schlecht werden.«
Für sie ist die Musik eine Sprache, die alle Menschen verbindet, egal, welcher Konfession sie angehören und welche Vorgeschichte sie haben. Deshalb denkt die Chorleiterin über ein gemeinsames Projekt mit der muslimischen Gemeinde in Hannover nach. Gerade Kindern und Jugendlichen will sie die jüdische Musik und Kultur nahebringen. Sie weiß: »Viele haben Vorbehalte gegen Juden. Bis sie die Musik hören. Dann ist das Eis gebrochen.«
Gerne würde sie auch einmal in Israel mit der »Verbotenen Musik« auftreten. Eine Konzertreise mit dem Synagogenchor nach Israel wäre auch für Ursula Philipp-Drescher ein Traum, »selbst wenn wir als reiner Frauenchor nicht überall auftreten dürften.« Doch unabhängig davon, ob dieser Traum jemals in Erfüllung geht, will die Chorleiterin so lange wie möglich für den guten Ton in der Dresdner jüdischen Gemeinde sorgen. »Ich tue das als Mizwa. Aus innerer Verbundenheit mit der Gemeinde und dem Glauben«, betont sie. Stella Perevalova pflichtet ihr bei: »In meiner Seele bin ich Jüdin durch und durch. Wenn die Gemeinde mich braucht, darf ich sie nicht enttäuschen.«