Der Meistersaal am Potsdamer Platz verkörpert seit 100 Jahren wie nur wenige Orte dieser Stadt die besondere Spannung zwischen Tradition und Moderne», heißt es in einer Information der Eventfirma des Hauses. In diesem Sinne passte die Veranstaltung, zu der sich am Sonntagnachmittag rund 100 Delegierte von «World ORT» trafen, sehr gut. Denn der Weltverband der größten jüdischen Bildungseinrichtung wurde 1921 im Meistersaal gegründet.
Ein Treffen zwischen Tradition und Moderne: Zum Programm der dreitägigen Jahrestagung des Repräsentantenbeirates gehörte nicht nur die Zeremonie am Ort der Gründung und eine Gedenkfeier am Gleis 17 – in Erinnerung an die von den Nazis ermordeten Schüler und Mitarbeiter der Organisation – sondern auch die Diskussion über aktuelle Herausforderungen des Fundraisings und ein interaktiver Roboter-Wettkamp. Daran beteiligten sich vier ORT-Schulen aus Argentinien, Bulgarien, Israel und der Ukraine.
Gründungsversammlung Zurück zum Meistersaal: In der Köthener Straße in Mitte befand sich einst das Verbandshaus der Baugeschäfte von Groß-Berlin. Hier wurden unter anderem die Meisterbriefe an Bauhandwerker verliehen, woraus sich der Name «Meistersaal» ableitet. Viele gesellschaftliche Feiern fanden hier statt, eben auch die Gründungsversammlung der «World ORT Union» am 1. August 1921.
90 Jahre danach stehen ORT-Repräsentanten aus rund 30 Ländern gut gelaunt im geschichtsträchtigen Saal und atmen dieselbe Atmosphäre wie ihre Urgroßväter.
ORT-Geschäftsführerin Sonia Gomes de Mesquita bekräftigt, dass genau hier, im Herzen Berlins, aus der ursprünglich russisch-jüdischen Bildungsinitiative eine in-ternationale Organisation mit Wirkungsradius in Dutzenden von Länder erwuchs. «Von 1921 bis 1933 hatte World ORT in Berlin seinen zentralen Sitz, und wir sind stolz und glücklich, dass die Rückverbindung nun wieder hergestellt ist,» erklärt Gomes.
Gemeinden «ORT gelingt seit 130 Jahren Bildungsarbeit für junge Menschen auf hohem professionellem Level», sagt die Berliner Gemeindevorsitzende Lala Süsskind anerkennend, «es ist die dringend nötige Investition für morgen und übermorgen.» Nicht ohne Stolz verweist Süsskind auf positive Trends in der nachrückenden Generation. «80 Prozent der Kinder der russisch-jüdischen Immigranten schaffen hier einen Schulabschluss, der sie zum Unistudium berechtigt», so Lala Süsskind, «und diese Mädchen und Jungen sind hungrig nach noch mehr Bildung.»
ORT-Generalsekretär Robert Singer, der seit zehn Jahren um Unterstützung für die verschiedenen, weltweiten Schulprogramme von ORT ringt, sieht Deutschland als besonderen Platz in der jüdischen Geschichte und Gegenwart. «Hier wachsen die jüdischen Gemeinden schneller als anderswo in der Diaspora, und das macht uns Hoffnung.»
Foto Hinterm Rednerpult ist jenes legendäre Foto zu sehen, das die einstigen Gründerväter von World ORT mit eher ernsten Mienen vereint. Jean de Gunzburg, der heute amtierende Präsident von World ORT, kann hier eigene Verwandtschaft ausmachen: «Der Onkel meines Großvaters war seinerzeit dabei, und es ist Tradition der Gunzburgs geblieben, die Arbeit von ORT über die Generationen hinweg zu fördern.» Heute, so der Präsident, lägen die Schwerpunkte der Arbeit in Schulprojekten und Bildungsprogrammen für jüdische Teenager in Lateinamerika, Osteuropa und vor allem in Israel. «Jüdische Bildung kann man heute mit Geld, mit eigenem Wissen und mit Zeitinvestitionen fördern», sagt Gunzburg. «Wir sollten versuchen, von allem gleichzeitig zu geben. Unsere jüdischen Kinder entscheiden über die jüdische Zukunft überhaupt.»
Zukunft Über die Zukunft der Organisation und ihre weltweiten Aktivitäten – vor allem in Israel – wurde viel gesprochen bei der Jahrestagung. Der eigens angereiste stellvertretende Ministerpräsident Silvan Shalom würdigte die Arbeit. Er hob besonders die Aktivitäten im Galil und dem Negev hervor, wo ORT Hunderte sogenannter Smart-Classrooms mit computergestützten Lernmitteln einrichtet: «Ich bin froh und glücklich darüber, dass es mit diesen Initiativen gelingt, den israelischen Kindern in der Periphie bessere Bildungschancen zu eröffnen.»
ORT-Generalsekretär Robert Singer kündigte im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen an, dass die Organisation auch in Deutschland wieder aktiver werden will. Derzeit habe man ein kleines Komitee in Frankfurt/Main. «Wie überlegen, unser Büro wieder nach Berlin zu verlegen. Über künftige Aktivitäten sind wir bereits im Gespräch mit den jüdischen Gemeinden in Berlin, Köln und Dresden.»
ORT wurde 1880 in Russland gegründet, als «Obschtschestwo remeslennogo i zemledeltscheskogo truda» (ORT). Russisch-jüdische Philanthropen wollten dadurch die Berufsausbildung fördern. 1921 kam die «Gesellschaft zur Förderung des Handwerks und der Landwirtschaft unter den Juden», die deutsche ORT-Abteilung, dazu, im gleichen Jahr in Berlin die «World ORT Union». 1933 wurde deren Zentrale nach Frankreich verlegt. Heute ist die Organisation, die über einen Etat von 144 Millionen Dollar verfügt, in mehr als 100 Ländern weltweit tätig.