Das mag jetzt vielleicht 15 Jahre her sein: Da überreichte mir meine Mutter kurz vor ihrem Tod einen Karton. Ich hatte den zuvor noch nie gesehen, hatte keine Ahnung, was mich da erwarten würde, machte ihn auf und fand darin Dokumente, Zet-tel, Unterlagen ... Ich sah mir das näher an und stellte fest, dass diese Papiere meiner Großtante Berthie gehört hatten.
Erinnerungen an sie hatte ich nur noch vage. Sie war ja schon 1960 gestorben. Ihre Impfkarte, ihr Arbeitsausweis ... solche Dinge lagen in diesem Karton, aber eben auch diese Postkarten. Meine Mutter sah mich von der Seite an und sagte nur: »Mach’ etwas daraus.«
Das ist das, was ich eigentlich tue. Ich mache etwas daraus. Ich bin Künstlerin, Bildhauerin. Das bedeutet, dass ich in Abständen immer wieder in künstlerische Projekte einsteige, eintauche, mich intensiv mit einem Thema beschäftige, auch mit der Frage, wie es sich kreativ umsetzen lässt. Was da ganz am Ende für sich stehen wird, soll sich mit meinem Ansinnen decken. Das ist das Ziel. Das ist die Kunst.
Durch mein künstlerisches Schaffen zieht sich eigentlich von jeher ein leitendes Motiv. Das ist die Darstellung des Fragilen, der Transparenz. Mich interessiert, was sich verbirgt. Ich möchte Unsichtbares sichtbar machen, benutze dafür gerne archetypische Formen und leichte Materialien.
Kunst zu schaffen und zwar weltweit, das ist tatsächlich, was ich am liebsten mache. Im Kongo, in Vietnam, in Mexiko, in Israel ... überall hatte ich schon Ausstellungen. Aber natürlich liegen zwischen solchen kreativen und produktiven Phasen immer Dinge, die einfach erledigt werden müssen. Ich bin ja so etwas wie eine Ich-AG, muss mich darum kümmern, dass Leute von mir erfahren, muss sehen, dass meine Dinge Aufmerksamkeit bekommen, muss sehen, dass ich meine Dinge, meine Objekte verkaufen kann. Dazu kommt das ganze Organisatorische: Ausstellungen vorbereiten, Briefe schreiben, mit der Bürokratie kämpfen, neue Kontakte knüpfen. Gerade läuft von mir in Kassel die Wanderausstellung »Erinnerte Gegenwart«. Die war unter anderem auch schon in Dachau und Hamburg zu sehen.
grosstante Mit Großtante Berthies Karton fing etwas an, fing die Idee für diese Ausstellung an, wurde mein Judentum für mich einmal mehr spürbar, erlebbar und plötzlich sehr konkret. Meine Großtante Berthie hat Theresienstadt überlebt, hatte dort als Krankenschwester gearbeitet, obwohl sie das nie gelernt hatte, und hat eben ab und zu Postkarten verschickt, die allerdings nirgendwo ankamen. Stattdessen landeten sie in diesem Karton.
Sie sind sehr eng beschrieben, diese sieben, acht Karten, zum Teil noch in Sütterlin.
Sie hätten Theresienstadt verlassen sollen, sind aber in der Maschinerie der Nazis, die alles minutiös kontrolliert haben, hängen geblieben und so wohl wieder zurück zur Großtante gekommen. Auf den Karten haben die Nazis ihre Spuren hinterlassen, mit einem roten Stift kenntlich gemacht, was ihnen nicht gepasst hat. Mal fanden sie, dass sie zu eng beschrieben seien, mal war ihnen inhaltlich etwas nicht genehm.
Jetzt sind die Postkarten von Berthie Teil meiner Ausstellung. Berthie Philipp hat übrigens eines der ersten Bücher über das Leben und Sterben im KZ geschrieben. Die Todgeweihten heißt es. Erschienen ist dieses besondere Buch, das auf Notizen im Krankenrevier beruhte, bereits 1947. Das ist bemerkenswert. Ich war damals gerade mal drei Jahre alt.
Hamburg Auf die Welt gekommen bin ich in einem Schloss. Ja, das habe ich irgendwann herausbekommen. Zu tun hatte das mit meiner Großmutter aus Hamburg Altona. Die hatte wohl rechtzeitig begriffen, dass das mit den Nazis für die Juden nicht gut ausgehen würde. Sie hat alle Familienpapiere verbrannt und sich zusammen mit meiner Tante und meiner Mutter einem Flüchtlingstreck Richtung Berlin angeschlossen. Bei Kontrollen hat sie angegeben, dass sie nach einem Bombenangriff auf Hamburg alles und eben auch alle Papiere verloren habe. Das hat offensichtlich funktioniert.
Suckow Als ich mich dann so langsam ankündigte, waren die drei Frauen gerade in Suckow. Das liegt im heutigen Landkreis Ludwigslust-Parchim in Mecklenburg-Vorpommern. Und da gibt es eben auch das Schloss Mentin, in dem sich eine Entbindungsstation für die Flüchtlingsfrauen befunden hatte.
Aufgewachsen bin ich – nach dem Krieg – in Hamburg. Und da hatte ich dann ein Erlebnis, das ich mein erstes »jüdisches Erwachen« nennen könnte.
Ich war so zwölf oder 13, da sagen meine Eltern zu mir – mein Vater hatte sich aus russischer Gefangenschaft stehlen können, weil er sich als Däne ausgegeben hatte –, da sagten eben meine Eltern: »Lass uns doch mal auf dem jüdischen Friedhof in Ohlsdorf nach dem Grab deiner Urgroßeltern sehen.« Wir sind also da hin, und es sah alles noch so richtig wild aus. Kein Mensch hat sich zu der Zeit um einen jüdischen Friedhof gekümmert. Meine Eltern beginnen also in dem Durcheinander zu suchen, während ich mich einfach von so einem Gefühl habe leiten lassen und plötzlich vor dem Stein der Eheleute Sophar stand, dem Grab meiner Urgroßeltern.
Kunstakademie Als ich mich viele Jahre später in München an der Kunstakademie für das Studienfach Kunsterziehung anmelden wollte, musste ich – das war damals noch so, wenn man vorhatte, in den Staatsdienst zu gehen – die Geburtsurkunden meiner Eltern und Großeltern vorlegen. Ich forderte die aus Hamburg an, und da sah ich dann tatsächlich, dass meine Großmutter, die, die alles verbrannt hatte und mit ihren zwei Töchtern im Flüchtlingstreck untergetaucht war, tatsächlich 1946 in Hamburg eine neue Geburtsurkunde ausgestellt bekommen hatte. »Margarethe Fischer, geborene Sophar«, stand darauf, und unter Religion: »mosaisch«.
Im Grunde ist unser Leben nach ’45 nicht sehr jüdisch verlaufen. Woran ich mich aber noch sehr gut erinnere, ist, dass meine Mutter, immer wenn ich während meiner Studentenzeit mit Freundinnen nach Paris gereist bin, verlangte, dass ich ihr von dort Mazzot mitbringen sollte. Studiert habe ich zuerst an der damals so bekannten wie umstrittenen Hochschule für Gestaltung in Ulm. Später ging ich dann noch an die Kunstakademie in München.
Ich heiratete, arbeitete bei Siemens, dann kam 1970 die erste Tochter zur Welt, 1972 die zweite. Meine Mutter erfreute sich sehr an ihren Enkelkindern. Dass wir ihnen jüdische Namen gegeben hatten, hat sie entsetzt. Sie empfand das als überflüssige Deutlichkeit.
Und irgendwann wollte ich mit meiner Jüdischkeit unterkommen, habe nach einem Ort gesucht, an dem ich mich damit gut fühlte. Über Rabbiner Walter Homolka habe ich hier in München vor etwa 20 Jahren Kontakt mit der liberalen Gemeinde Beth Shalom aufgenommen, bin Mitglied geworden, was exakt die richtige Entscheidung war. Ich initiierte später den dortigen Freundeskreis »Chawerim«, brachte zusammen mit meiner lieben Freundin Eva den Gedanken einer eigenen herzeigbaren Synagoge in Gang, lernte dabei Daniel Libeskind kennen. Die Zuständigkeit für den Bau einer liberalen Synagoge habe ich längst in andere Hände gegeben. Das sollen jetzt jüngere machen, und da tut sich sicher auch noch etwas.
stühle Mit einer Freundin, Blanka Wilchfort, ebenfalls Künstlerin, ebenfalls bei Beth Shalom, bin ich seit einiger Zeit an einem Gedenkprojekt beteiligt. Blanka hatte diese Idee vom »gebeugten, leeren Stuhl«. Zusammen haben wir dann daraus eine Skulptur werden lassen. Sie besteht aus verschweißten Kanteisen und Eisenplatten, stellt einen Stuhl dar, der auf zwei ewig hohen Stuhlbeinen balanciert. Viereinhalb Meter hoch ist das Ganze und schließt, im Gegensatz zu den Stolpersteinen, im Gedenken auch Opfer ein, die weder Grab noch Nachkommen noch einen Namen haben. Ein paar von diesen Stühlen sind in München an passenden Orten aufgestellt worden.
In München steht mein Haus, dahinter mein Atelier. In München lebe ich mit meiner Partnerin zusammen. Tiere, die ich liebe, umgeben mich. Keine lebendigen, aber aus den verschiedensten Materialien gestaltete. In München habe ich meine eine Tochter mit einem Enkel, in London meine andere Tochter mit drei Enkeln. Gut, dass ich gerne reise.