Amy Gutmann

»Meine Geschichte ist mit diesem Tag verbunden«

Amy Gutmann Foto: Stephan Pramme

Frau Botschafterin, wir treffen uns kurz vor dem 9. November. Ein trauriger Tag 1938, ein fröhlicher Tag 1989. Was verbinden Sie mit diesem Datum?
Der 9. November 1938 ist ein furchtbar trauriger Tag – in meiner Familiengeschichte und auch in der Weltgeschichte. Mein Vater floh bereits 1934 aus Nazideutschland, konnte aber seine unmittelbare Familie nicht davon überzeugen, mit ihm zu kommen. Die Pogromnacht machte deutlich, dass es für Juden kein Überleben geben würde. Die schlimmsten Zeiten also. Und dann, 51 Jahre später, war der 9. November ein sehr freudiger Tag. Der Tag, an dem die Mauer fiel und Deutschland wieder vereint sein sollte. Meine eigene Geschichte ist auch sehr mit diesem Tag verbunden – mein Vater hat diesen 9. November leider nicht mehr erleben können –, aber wir könnten dieses Gespräch jetzt nicht führen, hätte es diesen Tag 1989 und alles, was nach der Wiedervereinigung passierte, nicht gegeben. Nämlich: Dass Deutschland eine gefestigte Erinnerungskultur geschaffen hat, die es vielen Jüdinnen und Juden, Nachfahren von Überlebenden ermöglicht hat, Deutschland als die Demokratie anzuerkennen, die die Rechte und Menschlichkeit der Bürger respektiert. Eine Demokratie, die Menschen willkommen heißt und die Erinnerungskultur lebt.

Ist diese Erinnerungskultur in Gefahr?
Ich möchte zuerst die Bedeutung dieser Erinnerungskultur hervorheben. Sie ist für jeden Menschen, der in diesem Land lebt und dem die Rolle Deutschlands als starken demokratischen Partner und Verbündeter am Herzen liegt, von großer Bedeutung – so wie sie es für uns in den Vereinigten Staaten ist. Aber auch für mich ist diese Erinnerungskultur von besonderer Bedeutung. Nicht nur als amerikanische Botschafterin hier in Deutschland, sondern auch als Tochter von Kurt Gutmann und als stolze Jüdin. Ich habe mich auf eine sehr emotionale Reise in die Stadt begeben, in der mein Vater zur Welt kam und aufwuchs. Zusammen mit meinem Mann und meiner Tochter haben wir die ersten Stolpersteine vor dem Haus gelegt, in dem mein Vater zu Hause war und in dem die Familie ihr Geschäft hatte. Das war ein wichtiges Ereignis in meinem Leben und in dem meiner Familie. Wenn ich darüber spreche, fällt es mir schwer, meine Tränen zu unterdrücken. Aber es war vielleicht vergleichbar mit meiner Heirat, mit dem Mutterwerden. Ich lernte etwas über meinen Vater und seine Großeltern und erfuhr vieles, das ich sonst nie erfahren hätte. Seitdem ich Botschafterin bin, habe ich von Gräuel­taten gehört, die meiner Familie widerfahren sind, aber ich habe auch von den fröhlichen und, ja, normalen Alltäglichkeiten erfahren, die jüdische Familien vor dem Schrecken der Naziherrschaft erlebten. Wenn Sie mich also fragen, ob diese Erinnerungskultur in Deutschland in Gefahr ist, dann würde ich sagen: Ja, das ist sie.

Weshalb?
Sie ist dann gefährdet, wenn sie auch nur für einen Moment als Selbstverständlichkeit betrachtet wird. Wenn eine Gesellschaft – und insbesondere die deutsche – diese Erinnerungskultur als gegeben hinnimmt, als stabil, als gefestigt und als etwas, das nicht zerstört werden kann, dann ist das der Zeitpunkt, an dem es zu immer schlimmeren Vorfällen kommen kann. Der wachsende Antisemitismus in Deutschland, in meinem Land, den Vereinigten Staaten, und überall auf der Welt ist Grund zu großer Besorgnis. Und dem Gegenmittel räume nicht nur ich als Botschafterin höchste Priorität ein, sondern auch die ganze Botschaft und die Konsulate: Wir haben eine »Stand up and speak out«-Kampagne gegen Anti­semitismus und gegen alle Formen des Hasses und der Diskriminierung ins Leben gerufen. Das einfache Mittel gegen zunehmenden Judenhass, gegen den vermehrten Hass gegenüber Gruppen von Menschen und einzelne Personen ist, seine eigene Stimme zu erheben, den eigenen Einfluss und die eigene Kraft zu nutzen, um so früh und so oft wie möglich dagegen anzugehen. Das erste formelle Treffen hatte ich mit einer Gruppe von Gymnasiasten und der Schoa-Überlebenden Inge Auerbacher …

… Sie trafen sich Anfang September in Berlin …
Und wir hatten ein intensives Gespräch mit Inge genau darüber, was es also bedeutet, aufzustehen und seine Stimme früh und häufig gegen die schlimmsten Geschehnisse zu erheben. Das können scheinbar kleinere Vorfälle wie Mobbing in der Schule sein, was für junge Leute ein Thema ist. Aber es gibt auch Schulen, an denen es antisemitische Vorfälle gibt. Gegen wen auch immer diese Übergriffe gerichtet sind: Man muss dagegen aufstehen und sie benennen, man darf sich davon nicht einschüchtern lassen. Wenn Synagogen ins Blickfeld geraten oder es Gewalt gegen Einzelne gibt, müssen wir alle aufstehen und uns dagegen aussprechen. Ich habe mich sehr gefreut, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz das sehr schnell getan haben.

Was antworten Sie den Menschen, die sich von der notwendigen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte »belästigt« fühlen?
Ich denke, dass Gleichgültigkeit ein immenses Problem ist. Auch deswegen habe ich die »Stand up and speak out«-Kampagne gestartet. Wir fangen bei den jungen Menschen an, denn es ist sehr wichtig, dass dies Teil ihrer frühen Bildung wird. Aber es ist auch ebenso wichtig, dass man betont, was passiert, wenn man dies nicht tut. Es heißt ja, dass das Gegenteil von Güte und Liebe nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit ist. Wir werden die, die Leid und Hass verbreiten, nicht erziehen können. Ich sehe nicht, wie man die Hamas erziehen sollte. Wir müssen es den Menschen, die gleichgültig sind, nicht nur sagen, sondern auch zeigen, was es bringt, wenn man gegen terroristische Organisationen wie die Hamas zusammensteht, zusammenarbeitet und sich gegen sie ausspricht. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Vereinigten Staaten fest an der Seite Israels stehen, für das Existenzrecht Israels sowie für die Zukunft von Jüdinnen und Juden eintreten und entschieden gegen Antisemitismus vorgehen. Wir stehen auch für die gleichen Rechte von Palästinenserinnen und Palästinensern und Jüdinnen und Juden auf ein gutes Leben ein. Die Hamas repräsentiert nicht das palästinensische Volk. Die Hamas verteidigt nicht die Rechte der Palästinenser. Die Hamas und ihre Verbündeten sind – nach unseren jetzigen Erkenntnissen – verantwortlich für das Bombardement eines Krankenhauses im Gazastreifen und für den Tod vieler Tausend weiterer Menschen. Wir müssen unsere Stimmen nutzen, um das Gegenteil von Selbstgefälligkeit und Gleichgültigkeit zu schaffen.

Sie haben an der Demonstration einen Tag nach dem 7. Oktober am Brandenburger Tor teilgenommen. Wie haben Sie sich gefühlt?
Ich war nach dem 7. Oktober am Boden zerstört. Die Massaker und das Blutvergießen an diesem Tag, der Terror und die Brutalität gegen Jüdinnen und Juden, das war das Schlimmste seit den 40er-Jahren. Verzweiflung lässt sich nur durch Handeln überwinden. Ich war der Gruppe junger Menschen sehr dankbar, die – mit etwas Unterstützung von einigen Älteren – diese Demonstration organisiert haben. Das ist ein unheimlich wichtiges Beispiel für »Stand up and speak out«. Tausende Menschen kamen an diesem Tag zusammen, um Israel zu unterstützen, um Antisemitismus und alle Formen des Hasses zu bekämpfen. Aber vor allem, um Israel und um Jüdinnen und Juden zu unterstützen. Es gab also gar keinen Zweifel, dass ich dort – an der Seite des israelischen Botschafters – sprechen wollte. All diese Menschen vor dem Brandenburger Tor zu sehen, hat mir Hoffnung gegeben. Dieses frühe öffentliche und bestimmte Einstehen, das ist absolut wichtig für uns alle. Dieses Bündnis zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten ist entscheidend für die Unterstützung Israels. Dass Wolfgang Schmidt, der Chef des Bundeskanzleramts, an diesem Tag da war, ist ebenso wichtig gewesen. Er hielt keine Rede, aber die Tatsache, dass er einfach nur da war, spricht Bände – auch darüber, wie sehr sich Deutschland entwickelt hat.

Was auch Bände spricht, sind die verstörenden Szenen aus Neukölln, die zeigen, wie nach den Terroranschlägen der Hamas Süßigkeiten verteilt werden. Wie gehen Sie persönlich mit diesen Bildern um?
Sie brechen mir das Herz. Das wird mir und uns aber nicht die Hoffnung nehmen. Es gibt Menschen in dieser Welt, die Hass verbreiten, und es gibt Menschen, die sich sorgen und die eben nicht gleichgültig sind – und wir sind in der Mehrheit. Ich wünschte mir sehr, es würde solche Beispiele nicht geben, und ich bin sehr niedergeschlagen, da der Hass auf Jüdinnen und Juden auch schon vor dem 7. Oktober zunahm. Aber: Wir können und wir werden die Hoffnung nicht aufgeben. Die Juden sind ein Volk, das das Schlimmste überlebt hat. Und wie das Schlimmste aussieht, konnten wir am 7. Oktober sehen. Ich weiß, dass Deutschland ein starker Verbündeter ist, und ich sehe das auch daran, dass das Land immer mehr dafür tut, Synagogen zu schützen und Jüdinnen und Juden vor hasserfüllten Angriffen zu bewahren. Dafür möchte ich Deutschland danken, denn es ist sehr wichtig, dass wir das, was nicht selbstverständlich ist, würdigen und unterstützen. Die Demokratie gerät weltweit unter Druck, und Deutschland darf kein Beispiel dafür werden. Das Land muss standhaft bleiben, so wie es bisher das auch auf Regierungsebene ist – und auch in großen Teilen der Gesellschaft. Es muss die Rechte aller wahren und die Menschen vor Diskriminierung und Gewalt schützen.

Ich möchte gern noch einmal über Ihren Vater Kurt Gutmann sprechen: Sie haben kürzlich auf Ihrem Instagram-Account ein Foto von sich und Ihrem Vater gepostet. Woran denken Sie, wenn Sie auf das Bild blicken?
Das ist eines der wenigen Bilder, die ich von uns beiden habe, weil er so früh gestorben ist. Ich sehe den Mann, der mich so sehr geliebt hat, der so weitsichtig und mutig war; und ich freue mich, dass er auf diesem Bild aufrecht hinter mir steht, und mir den Rücken freihält, so wie er dies für seine ganze Familie tat. Wäre er nicht so mutig, weitblickend und liebevoll gewesen, dann gäbe es mich nicht. Er sieht stolz aus auf dem Bild. Als Botschafterin denke ich, dass er sehr stolz auf die erwachsene Amy gewesen wäre. Mein Vater wäre stolz gewesen, dass Deutschland und die Vereinigten Staaten heute die engsten Verbündeten sind. Dass Deutschland einer der stärksten und unerschütterlichen Unterstützer Israels ist; er war – wie auch ich – ein überzeugter Zionist, ein stolzer Jude. Von ihm und meiner Mutter habe ich alles gelernt.

Sie haben vorhin schon kurz über die Stolpersteinverlegung in Feuchtwangen gesprochen. Kommt dieser Tag ab und zu auch in privaten Unterhaltungen in der Familie vor?
Andauernd! Dass die Stolpersteine gelegt wurden, war so wundervoll für meinen Mann und für meine Tochter – wir haben auch unseren Enkeln davon erzählt. Es war so herrlich zu sehen, wie die kleine Stadt Feuchtwangen, wie der Bürgermeister uns mit offenen Armen empfangen und die Vergangenheit gewürdigt und sich ihrer angenommen hat – also die Erinnerungskultur lebt. Man darf nicht vergessen, dass Feuchtwangen 1933 mehrheitlich Hitler gewählt hat. Und in gewisser Weise zeigt die Reise unserer Familie nach Feuchtwangen wie in einem Mikrokosmos, was erreicht werden kann, wenn man das, was Menschen zur Gesellschaft beigetragen haben, würdigt. Heute gibt es dort ein Museum. Meine Tochter war erstaunt, mehr über ihre Ururgroßeltern und sogar Ur-Urgroßeltern zu erfahren. Dieses Wissen wäre sonst verloren gegangen. Wir werden über diesen Tag nicht nur in den kommenden Jahren, sondern – lange nach mir – in zukünftigen Generationen sprechen.

Was bedeutet es für Sie, hier in Berlin zu sein als erste jüdische US-Botschafterin?
Es bedeutet mir sehr viel, dass mich Präsident Joe Biden für dieses Amt ausgewählt hat. Ich werde seinen Anruf wohl nie vergessen. Er kam so absolut unerwartet. Das Erste, was ich auf seine Frage, ob ich Botschafterin in Deutschland sein wolle, antwortete, war, dass ich mich sehr geehrt fühlen würde. Und das ist immer noch so. Ich empfinde aber auch eine große Verpflichtung. Denn unsere Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass Deutschland und Israel engste Verbündete bleiben, dass Israel unterstützt wird und dass die Ukraine – so lange wie nötig – unterstützt wird. Persönlich würde ich es so formulieren: Das Amt hat mich insofern ausgewählt, als dass sich hier ein Kreis schließt, nicht nur in Bezug auf mein Leben und das meiner Familie, sondern auch in Bezug auf die Geschichte – von der Pogromnacht über den Fall der Mauer bis 2023. Zu meinen Aufgaben gehört auch sicherzustellen, dass Ereignisse, die in der Vergangenheit passiert sind und die zu der Pogromnacht führten, nicht wieder geschehen. Denn der Holocaust begann nicht überraschend; er geschah schrittweise. Und, ja, ich bin auch stolz, die erste weibliche Botschafterin im wiedervereinten Deutschland zu sein. Ich möchte nicht die letzte sein: Wir sollten inklusiver werden und Minderheiten stärker einbinden, ebenso wie multireligiöse Gruppen. Wenn ich also eine Feier zu Chanukka gebe – und ich glaube, dass ich die erste Botschafterin bin, die das in dieser Größenordnung tut –, laden wir nichtjüdische, jüdische, christliche, muslimische und atheistische Freunde ein. Denn genau darum geht es. Meine deutschen Freunde, meine deutschen Kollegen und ich haben einen gemeinsamen Auftrag und gemeinsame Ziele: Wir möchten etwas erreichen. Wir können zusammen lachen, zusammen weinen. Dieses Zusammen ist in den deutsch-amerikanischen Beziehungen so wichtig. Die Welt ist voller Herausforderungen, und wir müssen alle zusammenarbeiten, um sie erfolgreich zu bewältigen. Es gibt viel zu tun.

Mit der amerikanischen Botschafterin in Deutschland sprach Katrin Richter.

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