Wo auch immer Inge Auerbacher in den vergangenen Tagen auftauchte, konnte sie sicher sein, dass Fotografen und Journalisten schon auf sie warteten. So auch einen Tag nach ihrer Rede im Bundestag: Mit der Parlamentspräsidentin Bärbel Bas (SPD) traf sie sich vor der Wallstraße 84 in Berlin-Mitte, um weiße Rosen an den Stolpersteinen niederzulegen, die an ihre Freundin Ruth und deren Eltern erinnern.
In diesem Haus hatte die Familie Abraham einst gewohnt. »Danke für Ihre Rede in der Gedenkstunde«, ruft ein Passant ihr zu, als die 87-Jährige zu den Steinen schreitet. Dann dreht er sich in Richtung Bärbel Bas und sagt: »Für Ihre Ansprache auch.«
Deportation Auerbachers Familie war 1942 nach Theresienstadt deportiert worden. In ihrer Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag berichtete sie von den Leiden danach. »Wir waren 15.000 Kinder dort, nur wenige überlebten, wie durch ein Wunder auch ich«, sagt sie. Die Familie emigrierte später in die USA, wo Auerbacher Chemie studierte. Und sie litt an den Spätfolgen der Haft. In diesen Tagen ist sie nach Deutschland gereist, um im Bundestag zur Versöhnung aufzurufen und ihre alte Heimat in Süddeutschland aufzusuchen.
Auf den drei Stolpersteinen steht ein gerahmtes Bild, das ein kleines Mädchen zeigt. Etliche Anwohner und Mitglieder des Bürgervereins Luisenstadt legen Blumen ab. Ein Mädchen bringt ein selbst gemaltes Bild von einem Schmetterling – das Symbol für die anderthalb Millionen jüdischen Kinder, die in der Schoa ermordet wurden.
Bei ihrer Rede im Bundestag hatte Inge Auerbacher einen Schmetterling in Form einer Brosche angesteckt. »Ruth, ich bin hier, um dich zu besuchen«, sagt sie nun leise. Ihre Freundin war noch nicht einmal zehn Jahre alt, als sie von den Nazis umgebracht wurde. »Wir waren in Theresienstadt enge Freundinnen geworden und haben alles gemeinsam gemacht.« Das »Dorfmädel« aus Süddeutschland und die Berlinerin verstanden sich.
Verein »Die Steine sind frisch geputzt«, sagt Volker Hobrack vom Bürgerverein Luisenstadt. Vor 20 Jahren wurde ein Schülerprojekt initiiert, in dem etwa 400 Schicksale erforscht und dementsprechend viele Stolpersteine verlegt wurden – darunter auch die, die an die Familie Abraham erinnern.
»Wir sind zum Gedenken an Ruth Nelly Abraham, Herta Abraham und Richard Abraham gekommen«, sagt Rabbinerin Gesa Ederberg. Alle drei wurden erst nach Theresienstadt deportiert und von dort nach Auschwitz. Nach einer Schweigeminute sang die Rabbinerin das El Male Rachamim.
»Vielen Dank, dass Sie alle gekommen sind«, sagt Bärbel Bas, die Arm in Arm mit Inge Auerbacher vor den Steinen steht, am Schluss. Schließlich tritt Wulf Christmann von der Christmann Projekt-Entwicklung GmbH, die die Immobilie verwaltet, an Auerbacher heran. »Darf ich Ihnen den Innenhof zeigen? Die frühere Wohnung ist vermietet, die können wir leider nicht aufsuchen.«
Künstlerin Bei der Besichtigung des Areals erzählt die 87-Jährige, dass Ruth eine große Künstlerin geworden wäre, da sie so gut zeichnen konnte, dass sie im selben Bett geschlafen haben, zusammen zur Latrine gegangen sind und sie sich so verbunden gefühlt haben – vielleicht auch, weil sie beide Einzelkinder waren. Es gebe auch ein Buch von Ruths Zeichnungen. Verwandte von ihr lebten heute in Düsseldorf. Die beiden Mädchen versprachen sich, sich später gegenseitig zu besuchen.
Ruth wollte nach Süddeutschland nach Kippenheim kommen, wo Inge Auerbacher geboren wurde, und Inge nach Berlin. »Können Sie bitte vielleicht mit einem Bild oder einer Gedenktafel auf das Schicksal von Ruth hinweisen? Sie war doch ein lebendiger Mensch«, bittet sie den Bauherrn von der Projektgesellschaft. Der zeigt sich offen. Er hatte sich bereits Gedanken gemacht, die früheren Bewohner zu würdigen, aber die Details ständen noch nicht fest. Das Haus stammt aus dem Jahre 1870 und ist nun gerade fertig saniert.
»Wir bleiben in Kontakt«, sagt Christmann und gibt Auerbacher seine Visitenkarte. Sie wird ein paar Stunden später Berlin verlassen, um nach Kippenheim zu fahren.