Porträt der Woche

»Meine besondere Kantine«

Renata Neukirchen kümmert sich um den Arbeitsalltag von Menschen mit Behinderung

von Katrin Diehl  24.02.2015 10:24 Uhr

»Seit Kurzem bin ich Großmutter – ein wunderbares Gefühl!«: Renata Neukirchen aus München Foto: Christian Rudnik

Renata Neukirchen kümmert sich um den Arbeitsalltag von Menschen mit Behinderung

von Katrin Diehl  24.02.2015 10:24 Uhr

Wenn ich etwas Neues anfange, dann gebe ich nicht auf, bis ich erreicht habe, was ich will. Das muss nicht immer auf dem kürzesten Weg geschehen. Ein Umweg kann durchaus auch zu etwas gut sein. Dass ich so bin, wie ich bin, hat sicher mit meiner Lebensgeschichte zu tun und den Umständen, unter denen ich aufgewachsen bin.

Meine Kindheit war nicht einfach. Aber schlecht war sie deshalb nicht. Ich denke mit sehr viel Liebe zurück an meine Mutter und meinen Großvater, an dessen Hand ich mich bis heute durch München gehen sehe. Er hat mir alles gezeigt. Er hatte immer Zeit für mich.

manisch-depressiv Ich bin ein echtes Münchner Kindl, vor 66 Jahren in dieser Stadt geboren. Ein Großvaterkind. Meinen Vater kannte ich nur aus den Erzählungen meiner Mutter. Viel war es nicht, was sie erzählt hat. Die erste Andeutung hat sie gemacht, als ich in die Schule gekommen bin. Da hat sie gesagt: »Wenn dich die anderen nach deinem Vater fragen, dann sage ihnen, dass sie das nichts angeht.« Und weil ich ein sehr braves Kind war, tat ich, was man mir sagte. Ich kannte meine Mutter ja nur als psychisch sehr labil, als manisch-depressiv. Da wird man ein braves Kind.

Meine Mutter hatte meinen Vater 1947 im Zug von München in die Berge kennengelernt. Beide wollten zum Skilaufen fahren. Meine Mutter muss sich sehr in diesen wesentlich jüngeren Mann verliebt haben, der schon damals krank und angeschlagen war. Er war ungarischer Jude und der Einzige aus seiner Familie, der das KZ überlebt hatte.

Meine Mutter und ihre Familie waren politisch aktiv gewesen gegen die Nazis. Zwei meiner Onkel hat man standrechtlich erschossen. Dass so etwas Spuren hinterlässt, kann man sich denken. Auf viele hat meine Mutter hysterisch gewirkt, sogar der Großvater hat sie so genannt. Ich als Kind fand ihre Verrücktheiten irgendwie toll.

vater Eines Tages jedenfalls hat dann mein Vater zu meiner Mutter gesagt: »Ich geh’ weg und werde mich später wieder bei dir melden.« Doch das hat er nicht getan. Ich war damals noch kein Jahr alt. Weil es kein Foto von meinem Vater gibt, weiß ich nicht, wie er ausgesehen hat. Dennoch bin ich mir ziemlich sicher: Es war meinem Vater wichtig, zu zeigen, dass er überlebt hatte. Ich, sein Kind, war der Beweis dafür.

Meiner Mutter sollte ich ihren »Kummer wegmachen und ganz viel Freude bereiten«. Das sind gewaltige Aufgaben für ein kleines Mädchen. Und später, bei meiner beruflichen Entwicklung, gab es einiges, bei dem sich meine Mutter quergestellt hat, sodass ich, um sie nicht zu verletzen, immer wieder Umwege zu gehen hatte. Ich musste – und wollte – meine Wege für sie erträglich machen. Meine Ziele habe ich trotzdem erreicht.

Ich habe Sozialpädagogik studiert, dann heilpädagogisch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet und danach einige Zusatzausbildungen im Therapiebereich gemacht. Mitte der 80er-Jahre hatte ich die Idee, ein Unternehmen auf die Beine zu stellen, das sich um Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen kümmert. Ich habe die »Cooperative beschützende Arbeitsstätten« (CbA) gegründet, deren Geschäftsführerin ich bis vor einem halben Jahr war. Bis heute bin ich für den Bereich der kompletten Gastronomie zuständig.

Cateringservice Unter dem Dach der CbA führen wir nicht nur im »Blauen Haus« mitten in der Münchner Altstadt das Restaurant »Conviva«, zu dem auch die Kantine der Kammerspiele gehört, sondern wir betreiben auch eine Kantine in der Filmhochschule und einen Cateringservice.

Es wird frisch gekocht, und weil die Menschen mit Handicap für einzelne Arbeitsschritte zuständig sind, bieten wir viele Arbeitsplätze: Der eine bereitet die Schnitzel vor, der andere füllt die Tortellini, der Dritte dreht die Knödel.

Menschen mit Handicap haben ein eigenes Zeitmuster. Sie machen alles sehr gründlich und identifizieren sich total mit ihrer Arbeit. Allerdings brauchen sie immer Ansprechpartner, zu denen sie gehen können, wenn es Probleme gibt. Diese Partner müssen fähig sein, Konflikte zu lösen oder auszuhalten. Deshalb sind bei uns die Hälfte der Mitarbeiter Menschen mit und die andere Hälfte Menschen ohne Handicap.

Integration Weil unser Konzept mittlerweile einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hat, werde ich immer mal wieder als Beraterin eingeladen. Auch die Münchner jüdische Gemeinde hatte mich einmal angefragt, zum Thema berufliche Integration von Menschen mit Behinderung zu sprechen. Ich habe das gerne gemacht.

Wenn in der Küche oder wo auch immer Not am Mann ist, packe ich mit an, zumal ich sehr gern koche. Zweimal in der Woche sitze ich zwischen 12 und 14 Uhr an der Kasse in der Kantine der Filmhochschule. Da ist dann richtig Stresszeit, und die Menschen stehen Schlange. Am Abend bin ich oft im »Blauen Haus«. Wir haben da bis ein Uhr nachts auf, was auch genutzt wird, vor allem nach den Premieren. Wir schieben die blecherne Wand zwischen Kantine und Restaurant zur Seite, und auf den über 180 Holzstühlen sitzen dann plötzlich die Gäste mit den Theaterleuten zusammen.

Ich mag diese Nähe zum Theater und versuche, mir die meisten Premieren in den Kammerspielen anzusehen, sodass ich durchaus mitreden kann. Ich beurteile die Dinge psychologisch oft ein bisschen anders als meine Gesprächspartner. Die Psychologie liegt mir eben nahe, und weil ich eine analytische Supervisionsausbildung gemacht habe, bin ich bis heute auch ein wenig in dieser Richtung tätig. Meine Praxis ist zwar klein, ganz aufgeben möchte ich sie aber nicht.

Judentum Außerdem habe ich eine Arbeitsgruppe mit Therapeutinnen, die sich mit der Enkelgeneration nach dem Krieg beschäftigt. Da passe ich mit meiner Geschichte ganz gut hinein. Hier erfahre ich auch einiges über das Judentum.

Vor fast 50 Jahren, kurz nach dem Sechstagekrieg – ich war da ungefähr 18 –, bin ich zusammen mit einer jüdischen Archäologin drei Monate in Israel gewesen. Ich wollte ein bisschen was verstehen, und diese Archäologin hat mir das Land wirklich sehr nahegebracht. Aber es gab auch Erschreckendes: Auf dem Markt von Beer Sheva, es war ein furchtbar heißer Tag, rempelt mich plötzlich jemand von hinten an.

Ich drehe mich um, und eine Frau zeigt mir ihre eingebrannte KZ-Nummer. Sie hatte mich Deutsch reden hören. Und weil ich kein Hebräisch konnte, hatte ich noch nicht einmal die Möglichkeit, ihr die Geschichte meines Vaters, die ja auch ein Stück meine Geschichte ist, zu erzählen.

Verständnis Ich habe einige Male versucht, mehr über meinen Vater herauszufinden. Aber wirklich weit bin ich nicht gekommen. Die ganzen Unterlagen in Budapest seien nach dem Krieg verbrannt, hieß es. Und dann bin ich jemand, der denkt, es soll dann eben so sein. Ohne ihn gekannt zu haben, habe ich jedenfalls viel Verständnis für diesen verletzten Vater, und ich bin mir fast sicher, dass diese Beziehung zwischen zwei so belasteten Menschen, wie sie mein Vater und meine Mutter waren, nie gut gegangen wäre. Für mich als Kind wäre sie wahrscheinlich kaum zu ertragen gewesen.

Der Familienname meines Vaters war Stern. Ich habe ihn nie getragen, denn meine Eltern waren nicht verheiratet. Die Familiengeschichte jedenfalls geht weiter: Seit Kurzem bin ich Großmutter eines kleinen Mädchens, das finde ich ganz wunderbar.

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