Seit einiger Zeit beschäftigt mich die Frage, was es mit mir und den Märchen auf sich hat. Ich möchte das herausfinden. Wieso habe ich immerzu Märchen geschrieben? Märchen, Märchen, Märchen. Ich bin 1952 in Kiew geboren, und sobald ich den Schreibstift halten konnte, habe ich wundersame Geschichten aufs Papier gekrakelt. Ich war ein kleines Mädchen, und eigentlich hätte man schon damals ahnen können, dass ich eines Tages bei der Kinderliteratur landen würde.
Ich schreibe für Kinder. Alles andere als eine leichte Sache, wie man wissen muss! Manchmal kommt mein Mann abends nach Hause, fragt, was ich so den ganzen Tag getan habe, und ich schäme mich fast, ihm zu erklären, dass mir genau ein Satz gelungen ist. Sich innerhalb einer Fantasiewelt für Kinder zu bewegen, die richtigen Worte für sie zu finden, ist extrem schwierig. Trotzdem kann ich es nicht lassen.
Ein Grund dafür könnte sein, dass mir mein Vater früher sehr oft Geschichten erzählt hat. Er suchte sich ein Werk aus der klassischen Literatur aus, davon hatte er einen Fundus in seinem Kopf, und machte daraus, damit sein Töchterchen ihm folgen konnte, ein Märchen.
künstler Meine Leidenschaft für Texte kam vom Zuhören. Meine Eltern waren beide Schauspieler am Theater und ständig auf Achse. Sie hatten Theaterverträge in Litauen – dort lebten wir bis zu meinem vierten Lebensjahr –, Usbekistan, später in der Ukraine. Wir zogen die ganze Zeit um, unser Leben war chaotisch, Bücher gab es so gut wie keine. Die großen Koffer wurden für etwas anderes gebraucht. Diese Bücherlücke füllte mein Vater mit erzählten Märchen.
Hinzu kam, dass meine Mutter wegen ihres Berufes eine große Verwandlungskünstlerin war. Auch das beflügelt natürlich die Fantasie eines kleinen Mädchens.
Ich schrieb also ganz früh, sogar einige Gedichte waren darunter. Aber dann hat mich meine Mutter, die meinen Bildungsweg mit genauen Vorstellungen straff in die Hand genommen hatte, aus irgendeinem Grund auf ein mathematisches Gymnasium geschickt – und weil ich ein braves Mädchen war, habe ich fleißig und gewissenhaft gelernt.
spagat Für Kunst, Literatur und Musik war in dieser Zeit kein Platz, dafür umso mehr für Zahlen und Formeln. Ich bekam so das Bewusstsein für zwei ganz unterschiedliche Welten und den festen Wunsch, später den Spagat zwischen beiden zu wagen.
In Kiew studierte ich Kybernetik, bei uns ein Fach mit eigener Fakultät. Ging es ums Studium, war ich die Wissenschaftlerin, gab es eine Pause, habe ich Märchen geschrieben und die Blätter auf einem Märchenstapel abgelegt, bis der eines Tages so in die Höhe gewachsen war, dass ich die Papiere gepackt und mich damit in ein Filmstudio begeben habe.
Ganz schüchtern war ich. »Könnten Sie sich das mal angucken, ob irgendetwas Brauchbares dabei ist?«, habe ich gefragt. Die Redakteurin hat hochgeschaut, ist die Texte durchgegangen und hat gemeint: »Das ist mir ein bisschen zu sehr Andersen, das gibt es besser bei Hoffmann, und das hier kommt mir auch irgendwie bekannt vor – aber das da, das ist nicht schlecht, das nehmen wir, das ist etwas Neues.«
kapitoschka Das war der Anfang. Ein Regisseur hat sich dann noch einen Helden aus meinen Texten herausgepickt und gesagt, dass der etwas für eine Animation wäre. »Schreib um den herum ein Drehbuch, und ich bin dabei.« Ein Drehbuch? Davon hatte ich absolut keine Ahnung. Wir hatten ja in unserer Theaterwelt noch nicht einmal einen Fernseher besessen. Also las ich Bücher über Trickfilme, und auf einmal war ich im Geschäft.
Zwei von meinen Protagonisten kennt man bis heute in der Ukraine: den immer gut gelaunten Regentropfen Kapitoschka, der es damals auch geschafft hatte, diese Redakteurin zu überzeugen und der immerhin 35 Jahre überlebt hat, und Petja Pjatochkin, einen kleinen eigensinnigen, eher ungehorsamen Jungen, der es den Erwachsenen nicht eben leicht macht. In seiner Welt und der Welt der Kinder ist er ein Held, ein eigener Typ, sodass man in der Ukraine die Erwachsenen zu den Kindern sagen hört: »Du bist ja ein richtiger Petja.«
Wo es auf der Welt einen russischen Laden gibt, liegen meine Bücher. In der Ukraine finden sie sich in den meisten Kinderzimmern. Trotzdem sind wir gegangen. Das war im Jahr 1995. Meine kleine Tochter war damals sieben Jahre alt.
München Seit 2000 leben wir in München, mein Mann hat hier als SAP-Berater eine gute Stelle, meine kleine Tochter ist mittlerweile 27 Jahre alt und arbeitet in Berlin. Ich finde das Leben in Ordnung. Alles ist besser als das, was in den 90er-Jahren in der Ukraine los war.
Während der Perestroika habe ich, wie fast alle Künstler, meine Arbeit verloren. Alles lag am Boden, die Filmstudios produzierten keine Filme mehr, den Verlagen ging das Papier aus. Meine Tochter war ständig krank und brauchte Medizin. Es gab also genug Gründe, zu gehen, und nichts mehr, was uns gehalten hätte. Natürlich wusste ich genau, dass ich als Schreiberin meine Sprache weiter brauchen würde, und so bin ich bis heute an das Land gebunden, aus dem ich geflohen bin.
Ich bin kein 20-jähriges Mädchen mehr, das sich federleicht neue Kontakte aufbaut. Ich schreibe weiter – und zwar auf Russisch, auch wenn ich an den Geschichten, die ich zu meinen Verlagen nach Kiew schicke, nicht wirklich viel verdiene. Trotzdem. Ich schreibe weiter.
Abends und nachts funktioniert das am besten. So um drei verschwinde ich endlich ins Bett. Um neun stehe ich wieder auf. Ab elf Uhr schreibe ich. Ergibt sich eine Pause, ist da ja auch noch der Haushalt. Zwischendrin mache ich auch gerne mal Sport, Nordic Walking oder so etwas. Es ist wunderbar, wie bei der Bewegung der Kopf frei wird, es kommen Ideen, richtige Sätze.
maidan Allerdings habe ich auch schon Phasen erlebt, in denen ich nicht schreiben konnte. Kein einziges Wort. Meine Energie war weg. Zum Beispiel haben mich die Ereignisse in meiner Heimat richtiggehend zermürbt. Ich war in einer katastrophalen Verfassung, hatte überall Schmerzen, kam in die Klinik. Maidan, tote junge Menschen – ich war nur noch mit den nächsten Nachrichten beschäftigt, obwohl ich eigentlich überhaupt kein politischer Mensch bin.
Dass es mir jetzt wieder besser geht und ich wieder schreiben kann, liegt daran, dass ich letzten Herbst in der Ukraine war und gesehen habe, dass das Leben weitergeht. Zurück in Deutschland spürte ich, welch ein Gewinn es ist, hier zu leben. Die Welt ist größer und weiter geworden.
Ich entdecke neue Themen für meine Bücher, bin in Münchner Buchhandlungen und Bibliotheken unterwegs. Es gibt Kinderbücher über den Tod, über behinderte Kinder, über Kinder anderer Nationen, sogar eines über Exkremente. Das habe ich auf der Kinderbuchmesse in Bologna entdeckt. Wunderbar.
anruf Befreiend finde ich auch, wie ich jetzt meine Identität als Jüdin wieder zurückbekomme. Mein Vater war Russe und meine Mutter Jüdin, und natürlich musste man mit Antisemitismus rechnen. Die Religion war verboten und Juden einfach nicht beliebt. Sie waren lästig.
Dass mein Vater ein sehr bekannter Fernsehmoderator war, hat uns ein paarmal über schwierige Situationen hinweggerettet. Trotzdem hatte er bei jeder Uniprüfung, die ich zu absolvieren hatte, Sorge und Angst, weil es da manchmal dieses Formular gab, auf dem man Auskunft über Vater und Mutter geben musste.
Als Drehbuchautorin hatte ich einfach Glück, bei der Animation zu arbeiten. Die Abteilung wurde von der Politik nicht besonders beachtet, dort konntest du auch Jude oder Jüdin sein. Heute dreht man da auch jüdische Filme, jüdische Märchen mit jüdischen Liedern. Dafür etwas zu schreiben, dazu hätte ich eigentlich auch Lust, zumal ich das Gefühl habe, dass die menschlichen Werte, die man Kindern vermitteln will, aus der hebräischen Bibel stammen.
Vor ein paar Tagen erhielt ich einen Anruf aus Kiew – mein Halabudka-Film für Kinder hat den Ukrainischen Staatspreis erhalten. Der Film erzählt von einem alten Häuschen, das von den modernen Protzbauten aus seiner Stadt vertrieben worden ist, bis alle erkennen, welch ein Fehler das war.