Porträt der Woche

»Mein Leben ist stressig«

Uli Ettinger geht in die 12. Klasse, besucht Uni-Seminare und arbeitet mit Jugendlichen

 04.02.2010 00:00 Uhr

»Meine Familie sehe ich eigentlich nur abends«: Uli Ettinger ist fast den ganzen Tag unterwegs. Foto: Alexandra Umbach

Uli Ettinger geht in die 12. Klasse, besucht Uni-Seminare und arbeitet mit Jugendlichen

 04.02.2010 00:00 Uhr

Zurzeit ist mein Kalender ziemlich voll. Vergangene Woche musste ich drei Klausuren schreiben. Ich bin 19 Jahre alt und gehe noch zur Schule, in die zwölfte Klasse. Da gibt es vor dem Abitur viel zu tun.

Aber nicht alles in meinem Leben hat mit Schule zu tun. Sonntags arbeite ich im Jugendzentrum unserer Gemeinde hier in Düsseldorf. Ich bin Madrich und muss zuerst das Programm durchgehen, das ich im Laufe der Woche vorbereitet habe. Wir treffen uns um 12 Uhr. Am Anfang erledigen wir die Kleinigkeiten: So legen wir die Sachen für die Bastelgruppe heraus und bereiten etwas zu essen vor. Um 14 Uhr kommen dann die Kinder, meistens sind es 20 bis 30. In Deutschland haben wir leider das Problem, dass die Jugendlichen offenbar keine große Lust mehr haben, in die Jugendzentren zu gehen, denn die Zahlen sinken. In Frankreich zum Beispiel sieht das völlig anders aus. Wir versuchen herauszufinden, woran das liegt.

Im Jugendzentrum habe ich mich in letzter Zeit um Philosophie und Literatur gekümmert. Ich wollte etwas für die Älteren anbieten, etwas, das es vorher noch nicht gab. Doch es lief nicht so gut, das Interesse war gering. Vielleicht konnte ich es aber nur nicht vermitteln oder genug Werbung dafür machen. Ich werde jedenfalls versuchen, noch ein paar Jugendliche zu überreden, dass sie mitmachen. Für Philosophie interessiere ich mich auch in meiner Freizeit. Ich denke viel darüber nach, wie man zu einer guten Lebensweise kommt oder zumindest die richtige Richtung findet.

Nach dem Sonntag beginnt wieder der Schulalltag. Montags habe ich in den ersten beiden Stunden Philosophie. Der Unterricht geht bis 13.20 Uhr. Danach müsste ich eigentlich sofort zur Uni, zu einem Tutorium. Ich habe in diesem Semester mit einem Schülerstudium an der Uni begonnen. In letzter Zeit habe ich aber ein paar Veranstaltungen ausfallen lassen, weil ich mich mehr um die Schule kümmern muss. Montagabend ist Religionsunterricht, der findet in unserem Schulzentrum statt. Einige vom Jugendzentrum-Team sind dabei, deshalb ist es eigentlich immer lustig.

religion Erzogen wurde ich atheistisch, aber Religion interessiert mich schon. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, orthodox zu leben. Ich sehe das alles mehr als eine Lehre fürs Leben. Was wir zum Beispiel im Gottesdienst lesen, das kann man selbstverständlich anwenden, aber mir würde es besser gefallen, wenn die Menschen selbst darauf kämen. Die Religion ist kein schlechter Weg, um auf bestimmte Ideen oder Gedanken zu kommen, aber man geht dabei eben auch einen vorgegebenen Pfad.

Im Sommer hatte ich eine Phase, da bin ich jede Woche zum Gottesdienst gegangen. Es waren dort auch Mädchen aus Israel, von Lehava. Die gehen ins Ausland, lernen die Welt kennen und sind für das Jugendzentrum da. Sie haben uns viel erklärt, es war einfach super. Nach dem Gottesdienst haben wir uns mit ihnen getroffen, hatten ein jüdisches Abendessen, haben Wein getrunken und gesungen. Mir ist es immer wichtig, Menschen zu treffen. Zum Beispiel auch bei jüdischen Jugendfreizeiten. Daran habe ich schon oft teilgenommen – und übrigens vor zweieinhalb Jahren meine Freundin dort kennengelernt.

Dienstags kann ich etwas länger schlafen, weil die Schule zwei Stunden später als gewöhnlich beginnt. Aber der Tag ist richtig voll, denn nach der Schule kommt gleich wieder die Uni, wo ich eine Übung zur Logik besuche. Den Kurs werde ich aber wahrscheinlich auch nicht zu Ende bringen. Am Anfang hat es noch Spaß gemacht, doch dann wurde es zu stressig.

philosophie Ich weiß noch nicht, ob ich nach der Schule wirklich Philosophie studieren möchte. Eher nicht. Psychologie könnte ich mir vorstellen. Aber der Beruf dann, das wäre kein Bereich, in dem ich gern arbeiten möchte. Ich habe einfach noch keine Ahnung, was mal kommen soll. Es wird schon was geben, das zu mir passt. Da mache ich mir keine Gedanken und kümmere mich erst mal um Sachen, die mir gefallen. Aber irgendwann muss ich auch mal Geld verdienen.

freiheit Meine Eltern fragen mich manchmal, was ich werden will. Doch sie drängen mich nicht zu einer Entscheidung. Ich habe viel Freiheit. Früher habe ich daran gedacht, Arzt zu werden wie meine Mutter. Aber ich glaube, dass da schnell eine gewisse Routine in den Arbeitsalltag einkehrt, und das möchte ich nicht. Ich werde mir etwas suchen, das mich tatsächlich interessiert.

Ich habe sogar mal darüber nachgedacht, nach Israel zu gehen. Im Urlaub war ich ein paar Mal dort. Wir haben da viele Verwandte mütterlicherseits, in Tel Aviv, in Jerusalem und auch im Norden. Die Möglichkeit, nach Israel zu gehen, gab es zu Beginn der elften und zwölften Klasse. Man kann dort Abitur machen. Die Konditionen waren gut, es gibt viel Unterstützung. Und nach der Schule bleibt man dann in Israel, um dem Land etwas zurückzugeben, Armee, Studium. Aber ich wollte nicht aus meinem Umfeld heraus. Ein Freund von mir ist gegangen, und er scheint auch zufrieden zu sein. Wegen meiner Familie und meiner Freunde habe ich es nicht getan.

Trotzdem sehe ich weder meine Freunde noch meine Familie besonders oft. Meine Woche geht mittwochs und donnerstags nämlich auch mit Uni und Schule weiter. Wenn mich jemand anruft und erzählt, dass sich ein paar Leute treffen, habe ich meistens keine Zeit. Und meine Familie sehe ich eigentlich nur abends. Oder wenn meine Mutter morgens in dieselbe Richtung muss wie ich, dann nimmt sie mich mit. Aber sie verstehen alle, dass ich viel zu tun habe und beschweren sich nicht. Ich habe zu Hause deshalb auch nicht viele Pflichten.

kibbuz Donnerstags treffen wir uns wieder im Jugendzentrum. Eigentlich haben wir da nur Besprechungen, aber einmal im Monat gibt es ein besonderes Programm. Da kommen dann Autoren oder Comedians, die eine Beziehung zum Jüdischen haben. Kürzlich hatten wir den jungen Publizisten Martin Schäuble zu Gast. Er hat über sein Buch Die Geschichte der Israelis und Palästinenser gesprochen. Allein durch solche Veranstaltungen denke ich oft an die Situation in Israel. Vielleicht ist es ja wirklich eine Option für mich, nach der Schule dorthin zu gehen. Meine Schwester war ein halbes Jahr in einem Kibbuz, das könnte ich mir auch vorstellen. Aber jetzt sollte ich mich erst mal um einen guten Abschluss bemühen.

Nach dem Unterricht am Freitag habe ich endlich Zeit für meine Freundin. Wir führen eine Fernbeziehung, sie lebt in der Nähe von Mannheim. Mal fahre ich zu ihr, mal kommt sie nach Düsseldorf. Das sind dreieinhalb Stunden Fahrt. Nach der anstrengenden Woche ruhen wir uns meistens aus, anstatt viel zu unternehmen. Wir verbringen die Zeit gemeinsam, schauen Filme oder gehen essen. Wenn man sich so selten sieht, ist man am Wochenende gar nicht so sehr an Partys interessiert. Meine Wochentage sind ja schon so vollgepackt!

Aber meine Freundin ist strebsamer als ich. Sie hat zum Beispiel schon längst ihren Führerschein. Ich habe mich zwar auch angemeldet, aber seitdem ist kaum etwas passiert. In letzter Zeit ist es eben nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt habe. Wahrscheinlich ist mein Leben einfach zu stressig. Aber ich hoffe, dass sich das einpendelt, wenn ich es passender für mich gestalte. Ich bereue es auch nicht, dass ich so viel zu tun habe. Wenn etwas nicht läuft, dann weiß ich ja, dass der Fehler bei mir liegt.

Aufgezeichnet von Zlatan Alihodzic

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