Donnerstag ist Enkeltag. An diesem Tag, und bei Bedarf auch an den anderen, kümmere ich mich immer um meine vier Jungs. Zwei sind elf, und zwei sind sechs. Natürlich sind sie lieber bei der Oma. Da dürfen sie länger fernsehen und den Computer benutzen. In der Familie haben wir ein fantastisches Verhältnis, sie ist für mich der Fels in der Brandung. Ich bin stolz, dass aus allen etwas geworden ist. Meine beiden Töchter – eine ist Ärztin, eine Fachschwester für Onkologie – leben mit ihren Familien in Leipzig. Genauso wie meine drei Geschwister, zu denen ich einen ganz engen und herzlichen Kontakt pflege.
Seit einem Jahr bin ich nun, nachdem ich zuvor verkürzt gearbeitet habe, in Rente. Manche meinen ja, als 64-Jährige habe man endlos Zeit. Das ist ein absoluter Trugschluss. Zeit habe ich eigentlich nie, mein Tag ist voll verplant, und doch ist dies für mich ein erfülltes Leben. Einfach zu Hause herumzusitzen und nichts zu unternehmen, das könnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. Dreimal die Woche gehe ich zum Sport. An der Volkshochschule nehme ich am Englischkurs teil. Zudem treffe ich regelmäßig meine Klassenkameraden und meine früheren Kollegen.
berufsleben Die letzten 15 Jahre habe ich in Leipzig ein Heim für geistig Behinderte geleitet. Als ich 1993 diese Stelle antrat, war das für mich als ausgebildete Diplommedizinpädagogin eine echte Herausforderung – mit all diesen Verwaltungsvorschriften, die ja gänzlich neu waren. Aber es war auch etwas sehr Schönes. 70 Behinderte leben in dem Heim, und wir waren wie eine Familie, in der jeder jeden braucht. Heute betreue ich ehrenamtlich noch immer einige von ihnen. Es ist ein gutes Gefühl, sich sozial engagieren zu können.
Dann ist da der Garten am Stadtrand von Leipzig, wo sich kein Halm Unkraut findet und wo ich im Häuschen bei schönem Wetter gelegentlich auch übernachte. Und wenn ich hier in meiner Wohnung bin, dann setze ich mich manchmal voller Muße ans Klavier und spiele: Sonaten, Arien, Lieder. Amazing Grace habe ich im Notenheft gerade aufgeschlagen. Ich mag das Stück. Das Klavierspielen habe ich für mich erst wiederentdeckt, als ich im Heim eins stehen sah. Nach Jahrzehnten, in denen ich nicht spielte, erinnerte ich mich, wie mich der Kantor der Gemeinde als Kind beim Chanukkafest beobachtete, als ich auf den Tasten herumklimperte. Seine Frau kaufte mir später ein Klavier und bezahlte mir zwei Jahre lang die Stunden – was für eine Großzügigkeit damals in den 50ern! Meine verwitwete Mutter, die uns vier Kinder mit 250 Mark Fürsorge im Monat und bei 53 Mark Miete durchbringen musste, hätte das ja allein nie gekonnt.
Auf meine Mutter, die 1914 als Rosa Bäumel geboren wurde, bin ich unendlich stolz. Sie hat Unglaubliches durchmachen müssen, jedoch wenig darüber gesprochen. Als Tochter eines jüdisch-polnischen Fotografen und einer tschechischen Jüdin war sie in Leipzig groß geworden und hatte hier Verkäuferin gelernt. Als im Oktober 1938 der erste Judentransport aus Leipzig abging, war auch ihr Verlobter dabei, den sie zwei Monate später heiraten wollte. Er wurde mit 5.000 anderen nach Polen abgeschoben. Sie sah ihn nie wieder. Wenige Tage später überstand sie die furchtbare Pogromnacht. Die Nazis traten die Wohnungstür ein und sperrten sie in ein Zimmer, zerschlugen alles, haben sie auch bestohlen. Ein Teil der Familie kam nach Buchenwald, ein Teil konnte nach Belgien fliehen und wurde dort verhaftet.
Zwei Jahre später lernte sie durch eine Freundin im jüdischen Palast-Café einen Chinesen kennen, der in Leipzig als Kaufmann arbeitete. Er sagte ihr, sie sei zu schade, getötet zu werden. Und so heiratete er sie, das Paar wurde römisch-katholisch getraut. Meine Mutter hat das vor dem Tod bewahrt. Ob sie ihren Mann geliebt hat? Ich weiß es nicht. Sie hat einmal einen Satz gesagt, den ich nie vergessen werde: »Meinen Verlobten habe ich geliebt, dein Vater hat mich gerettet.«
Meine Mutter, die jetzt Rosa Chüo hieß, und mein Vater mussten sich jeden Tag bei der Gestapo melden, beide wurden dann auch als Zwangsarbeiter eingesetzt. Obwohl er an einer Magenkrankheit litt, ging er nie zum Arzt, nie ins Krankenhaus. Er hatte wohl Angst, dass in dieser Zeit seine Frau abgeholt werden könnte. Er starb 1948, kurz nachdem mein jüngerer Bruder geboren wurde und ich zwei Jahre alt war.
Durchgeschlagen Ich hieß zunächst Song Jeng Chüo. Das bedeutet »Waldblume«, ich habe es mir später einmal übersetzen lassen. Unsere Familie war staatenlos. Wir konnten uns irgendwie durch- schlagen, weil uns die Gemeinde immer unterstützte, ich durfte sogar in ein jüdisches Kinderferienlager nach Westberlin reisen. Meine Mutter, die wegen der Kinder nicht arbeiten konnte, verdiente sich manchmal in einer Hausfrauenbrigade ein paar Mark dazu. Natürlich bin ich als Kind gehänselt worden, aber meine kräftige Schwester hat sich diese Mitschüler »zur Brust genommen«, und dann legte sich das irgendwann.
An einen Tag im Jahr 1954 kann ich mich noch genau erinnern. Die Klassenlehrerin sagte zur morgendlichen Begrüßung: Song Jeng heißt ab heute Hanni. Wir hatten die Staatsbürgerschaft der DDR angenommen und eine Namensänderung veranlasst. Mein Nachname hat sich durch die Heirat noch einmal geändert, ich habe ihn auch nach der Scheidung 1988 beibehalten.
Wenn man die Geschichte meiner Familie versteht, dann versteht man vielleicht auch, warum mir die Gemeinde, warum mir die Tradition so wichtig ist. Obwohl ich sehr liberal bin, bin ich bis heute Mitglied der Leipziger Gemeinde und besuche die Veranstaltungen.
ungarn-urlaub Nun steht der Sommer vor der Tür. Ich habe natürlich viele Pläne. Gerade war ich für ein paar Tage in Lychen in der Uckermark, wo meine Kinder ein Grundstück haben. Es war herrlich – mit Kindern und Enkeln. Angeln, Grillen, Sonnen. In ein paar Tagen erwarte ich nun den Besuch meines amerikanischen Cousins und seiner Tochter. Wir können ja seit der Wende wieder Kontakt haben, was mir sehr wichtig ist. Immerhin hat er es durch die Flucht nach Belgien bis nach Amerika geschafft, ist dort von einer Großtante adoptiert worden. Er weiß viel aus unserer Familiengeschichte – deshalb muss ich noch weiter an meinem Englisch feilen.
Wenige Tage nach seiner Abreise werde ich dann nach Ungarn fahren. Ich liebe dieses Land, was ja für DDR-Bürger immer so eine Art Urlaubstraumland war. Für mich ist es das noch immer. Seit vielen Jahren reise ich an den Balaton, inzwischen zwei- bis dreimal pro Jahr. Jede Woche skype ich meiner ungarischen Freundin. Außerdem habe ich vor Jahren Ungarisch gelernt, sodass ich inzwischen fließend sprechen kann. Diese Menschen, dieser Wein, diese Küche – einfach herrlich.
Naja, und dann ist schon der Schulanfang von einem meiner Enkel. Das ist immer eine gute Gelegenheit für ein großes Familienfest. Es werden wohl um die 70 Personen sein, ich freue mich sehr. Und schließlich treffen sich die vier Geschwister und ihre Partner seit vielen Jahren zu einem für uns ganz wichtigen Fest am 26. Dezember. An diesem Tag hatte unsere Mutter Geburtstag. Die Tradition, das zu feiern, haben wir bis heute beibehalten. Dieser Tag gehört ihr.
Aufgezeichnet von Steffen Reichert