Porträt der Woche

»Mein langer Weg des Lernens«

Itai Axel Böing ist Lehrer und trat drei Mal zum Judentum über

von Gerhard Haase-Hindenberg  18.06.2020 07:04 Uhr

Itai Axel Boeing Foto: Chris Hartung

Itai Axel Böing ist Lehrer und trat drei Mal zum Judentum über

von Gerhard Haase-Hindenberg  18.06.2020 07:04 Uhr

In einem Beit Din in Dresden wurde ich ins Judentum aufgenommen. Hinterher habe ich erfahren, dass dieser Reformübertritt nicht von allen Rabbinern anerkannt wird. Da ich jedoch weiter lernen wollte, sah ich mich in Jerusalem in den Jeschiwot um. Als verbeamteter Lehrer konnte ich dafür ein sogenanntes Sabbatjahr nehmen.

In der Altstadt von Jerusalem fand ich eine Jeschiwa, die mir zusagte. Dort lernte ich einen Masorti-Rabbiner kennen, der mir erklärte, dass bei meinem Übertritt etwas mit dem Ritual der Mikwe zweifelhaft erschien. Er schlug mir daher vor, noch einmal einen kompletten Giur zu machen. Ob dies nötig war, weiß ich nicht, aber ich wollte nicht die Ursache eines Streits unter Rabbinern sein.

Paideia Nach meiner Pensionierung ging ich für ein Jahr nach Stockholm zu Paideia, dem Europäischen Institut für Jüdische Studien. In der Nähe fand ich eine kleine orthodoxe Synagoge, zu der ich jeden Morgen vor dem Unterricht zum Schacharit-Gebet ging. Ich wurde freundlich aufgenommen, aber ich bekam mit, dass ich beim Minjan nicht mitgezählt wurde.

Eines Tages bot mir der orthodoxe Rabbiner an, mir zu helfen, meinen Giur »zu komplettieren«. Während unseres Studienaufenthaltes in Jerusalem – das gehörte bei Paideia dazu – solle ich seinen Schwiegervater aufsuchen, der der Vorsitzende eines orthodoxen Beit Din sei. Nach einem Vorgespräch saß ich schließlich drei orthodoxen Rabbinern gegenüber, die mich dieses und jenes fragten. Es geschah alles in großer Würde, und am Ende wurde ich nun auch ins orthodoxe Judentum aufgenommen.

Ich leiste jedes Jahr einen sechswöchigen Freiwilligendienst in der israelischen Armee.

Geboren wurde ich im Januar 1945 im ostpreußischen Elbing, dem polnischen Elblag. Meine Mutter kam aus dieser Gegend. Mein Vater war aus Hohenlimburg, einer kleinen Stadt im Sauerland, wo ich nach unserer Flucht aufwuchs. Er war Drogist und hatte ein kleines Geschäft. Während des Krieges war er Sanitätsunteroffizier.

Im Alter von 14 Jahren fiel mir ein Buch über die Verbrechen des Nationalsozialismus in die Hände, und ich war schockiert. Wie konnten Menschen anderen so etwas antun – in Tötungsfabriken solch einen gigantischen Völkermord organisieren? Zum Abitur reichte ich bei meinem Geschichtslehrer als Thema Antisemitismus ein.

SYNAGOGE Danach verpflichtete ich mich für zwei Jahre zur Bundeswehr, um unabhängig von meinen Eltern zu werden. Einmal, als ich sie in Hohenlimburg besuchte, zeigte mir jemand eine Kürschnerwerkstatt und erzählte, dass das früher eine Synagoge gewesen sei. Während meiner 20 Lebensjahre dort habe ich das nicht gewusst. Später habe ich erfahren müssen, dass es in meiner Familie einen blinden Fleck gab, über den nicht gesprochen wurde.

Bei der Durchsicht des Nachlasses habe ich den NSDAP-Parteiausweis meines Vaters gefunden. Eines seiner ehemaligen Lehrmädchen aber sagte mir, dass er kein fanatischer Nazi gewesen sei. Sie erzählte auch, dass meine Großmutter am 9. November 1938, als die SA nebenan das Haus des Schächters demolierte, hinausgelaufen sei und ihnen mit erhobenem Finger zugerufen habe: »So etwas tut man nicht!« Das empfand ich als tröstlich.

SECHSTAGEKRIEG Nach der Bundeswehrzeit schrieb ich an »Aktion Sühnezeichen«, dass ich gern ein Freiwilligenjahr machen möchte – aber nur in Israel. So kam ich 1966 dorthin, arbeitete zunächst ein halbes Jahr in einem Kibbuz. Die landwirtschaftliche Arbeit hat mich begeistert, auch, weil man unmittelbar sah, was man geleistet hatte – und das auf einem Traktor neben einem Berliner Einwanderer mit zwei Doktorgraden.

Nach der Zeit im Kibbuz wechselte ich nach Jerusalem in ein Heim für körperbehinderte Kinder. Von Anfang an war ich motiviert, Hebräisch zu lernen. Im Kibbuz hatte ich jeden Morgen eine Stunde lang Unterricht, in Jerusalem lernte ich in einem Ulpan. Sehr viel habe ich aber auch von den Kindern in unserem Heim gelernt.

Später habe ich erfahren müssen, dass es in meiner Familie einen blinden Fleck gab, über den nicht gesprochen wurde.

Als der Sechstagekrieg begann, stellte man uns vor die Wahl, das Land zu verlassen oder zu bleiben. Für mich aber war es undenkbar, jene Menschen, die in Israel eine rettende Heimat gefunden hatten, im Stich zu lassen. Die kriegerische Bedrohung hat mich emotional noch mehr an dieses Land gebunden.

Meine Verbundenheit besteht bis heute fort. Sie äußert sich unter anderem darin, dass ich jedes Jahr einen sechswöchigen Freiwilligendienst in der israelischen Armee leiste. Es ist meinem Alter geschuldet, dass ich in der Kleiderkammer arbeite, mich an der Verschönerung des Militärgeländes beteilige oder Ersatzteile sortiere.

STUDIUM In Berlin studierte ich zunächst zwei Semester Psychologie. Hier hat mich die Studentenbewegung mit aller Macht erwischt. Über die Aktion Sühnezeichen gab es die Möglichkeit, in der Gedenkstätte Theresienstadt zu arbeiten. Zunächst war ich Hilfsarbeiter und dann Guide für Deutsch und Englisch sprechende Touristengruppen, ehe ich für einige Monate in der Gedenkstätte Auschwitz arbeitete. Dort fungierte ich als Verbindungsmann zwischen Freiwilligen, die jeweils für zwei Wochen kamen, und der Leitung des Museums.

Nach dieser Zeit lebte ich ein Jahr in den USA, um an einem Antirassismus-Projekt in Detroit mitzuarbeiten. Ich wohnte in einer Nachbarschaft, in der nur schwarze Amerikaner lebten. Die Idee war, Weiße für einen institutionalisierten Rassismus zu sensibilisieren, wie er sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen zeigte. In dieser Zeit in den USA führte ich zum ersten Mal ein Gespräch mit einem Rabbiner.

Zurück in Berlin, studierte ich an der Pädagogischen Hochschule. In dieser Zeit beschäftigte mich intensiv die Frage, wer damals etwas gegen die Nazis unternommen hatte. Ich lernte ehemalige kommunistische Widerstandskämpfer kennen, die ihrer Überzeugung wegen in den Konzentrationslagern gesessen hatten.

Die DDR, wo ja ehemalige Widerstandskämpfer an der Macht waren, so sagte ich mir damals, sei das bessere Deutschland. Solch eine kommunistische Überzeugung beherrschte mein Denken für viele Jahre. Erst sehr viel später erfuhr ich durch den Publizisten Jeffrey Herf von dem »unerklärten Krieg der DDR gegen Israel«.

Ich wurde ganz bewusst Lehrer.

Ich wurde ganz bewusst Lehrer. Mir war klar, dass man die ältere Generation, die von den Nazis geprägt war, nicht würde ändern können. Was ich aber tun konnte, so meine Überlegung, war, die junge Genera-tion als Lehrer so weit zu begleiten, dass sie nicht rassistisch und antisemitisch wird.

WIDERSPRUCH Eines Tages erfuhr ich von einem Gesamtschulprojekt zur Förderung türkischer Schüler, und ich wusste: Das ist mein Ding. Hier organisierte ich mit einer 10. Klasse eine Reise nach Auschwitz, nachdem dies im Jahr zuvor am Widerstand einiger Eltern gescheitert war.

Zwischendurch wollte ich auch wieder im Ausland arbeiten, weshalb ich über den Deutschen Entwicklungsdienst für vier Jahre an eine Schule in Benin ging. Später unterrichtete ich noch einmal zwei Jahre in Tblissi an einem georgischen Gymnasium Deutsch.

Nach dem Ende meiner kommunistischen Sympathien wurde mir dank meiner Schüler etwas deutlich. Sie legten Wert darauf, schön zu sein, und ich kam ihnen damit, dass es darauf ankomme, etwas in den Kopf zu kriegen. Und in diesem scheinbaren Widerspruch wurde mir klar, dass es auch eine Seele gibt, die genauso Nahrung braucht wie der Körper und der Geist.

Ich bat einen befreundeten Pfarrer, mir eine gut verständliche Übersetzung des Tanachs zu geben sowie eine christliche Bibel. Beides las ich von der ersten bis zur letzten Seite. Der Tanach hat zu mir gesprochen, die christliche Bibel nicht, was mich veranlasste, zum Rabbiner zu gehen, um ihm meinen Übertrittswunsch mitzuteilen.

BARMIZWA 1999 lud ich anlässlich meiner Barmizwa in der Synagoge Fraenkelufer, nachdem ich zum ersten Mal die Haftara gelesen hatte, zum Kiddusch. Damals gab es noch Beter mit der eintätowierten Nummer, und es hat mich tief gerührt, dass sie mir die Hand gaben und »Willkommen!« sagten.

Nun, 20 Jahre später, wird an mich herangetragen, dass es junge Beter gibt, die hinter meinem Rücken sagen: »Es mögen Rabbiner bestätigt haben, dass er Jude geworden ist, aber zum jüdischen Volk gehört er nicht – nicht mit seiner familiären Vorgeschichte.«

War es ein Fehler, dass ich meinen familiären Background erzählt habe? Gemeindemitglieder haben mir bestätigt, dass eine solche Ausgrenzung unjüdisch sei. Es sind zwar nur Einzelne, die so etwas sagen – trotzdem verletzt es mich.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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