Das hier ist eines meiner Lieblingsgräber», sagt Michael Stude-mund-Halévy und deutet auf einen pyramidenförmigen Stein, der sich auf den sonnendurchfluteten Lichtungen des Altonaer Friedhofes vom Gräberfeld abhebt.
Von den Inschriften, den Insignien, selbst aus dem Material der Grabsteine des jüdischen Friedhofs lasse sich vieles über das Leben der sefardischen Juden in Hamburg ablesen, schwärmt der 69-jährige Wissenschaftler. Man kann auf die Verbindungen der Sefarden mit den zeitgenössischen Gesellschaften schließen, sieht Einflüsse aus der damaligen Kultur oder auch der christlichen Vergangenheit in der Gestaltung der Grabsteine.
Zu fast jedem kann Studemund-Halévy eine Geschichte erzählen, und man spürt die Leidenschaft für sein Thema. «Ich kenne die Toten besser als meine Familie», scherzt der Sprachwissenschaftler. Seine Faszination für die sefardische Kultur begleitet ihn seit Studientagen, es ist auch eine emotionale Verbindung: «Mein Körper ist aschkenasisch, mein Herz aber natürlich sefardisch.»
Projekte Studemund-Halévy hat selbst ein ziemlich bewegtes Leben hinter sich – und ist immer noch in steter Bewegung. Die verschiedenen Projekte lassen ihn rund um den Globus reisen, oft in die Karibik, wo es eine sefardische Tradition gibt, zu den Orten der von ihm mitorganisierten Summer School für Judenspanisch in ganz Europa. Langeweile kommt da nicht auf.
Als «polyglott» habe man ihn kürzlich bei einer Veranstaltung zu seinen Ehren beschrieben. «Na ja, wenn man das Wort nicht so hoch hängt, mag das vielleicht zutreffen», kokettiert der Professor mit der ihm eigenen Ironie. Dabei stammt er schon durch seine Eltern aus einer durchaus polyglotten Familie, der Vater deutsch-französisch, die Mutter französisch, geboren wurde er in Aserbaidschan. Dieses Wandeln zwischen Welten und Sprachen zieht sich durch sein Leben.
Er gibt auf Nachfrage zu, sich in den folgenden Sprachen «passabel verständigen» zu können: Deutsch, Englisch, seiner Muttersprache Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, «einigermaßen» in Türkisch und Bulgarisch und natürlich in Hebräisch. «Ich will alles lesen und an Diskursen teilnehmen können», sagt er, richtig am Herzen aber liege ihm Portugiesisch, schon seit der Kindheit.
Seminar Er ist bis heute Mitglied der Gemeinde in Lissabon, hat dort als junger Mann auch studiert, wie auch in Perugia, Bukarest und Hamburg, in Lausanne sowieso: «Das war eine Art Familien-Uni, alle Geschwister studierten dort.» Sein Ziel war es, jedes Semester eine andere Universität zu besuchen: «Damals war es noch einfach, ich setzte mich in einen Zug, immatrikulierte mich, und am nächsten Tag saß ich in den Seminaren.» Irgendwann wurde er dann doch «vernünftig» und landete an der Universität Hamburg.
Der gelernte Linguist, der sich selbst als «Pseudo-Historiker» bezeichnet, wurde schnell zum Ansprechpartner für sefardische Themen und Judenspanisch. Konkurrenz war rar, «ich war schließlich der einzige in meinem Fachgebiet».
Seit 1990 arbeitet Studemund-Halévy am Institut für die Geschichte der Deutschen Juden, schon kurz darauf wurde ihm von der Hamburger Gemeinde angetragen, sich um den sefardischen Teil des Altonaer Friedhofes zu kümmern. Seitdem hat sich dort viel getan, durch Stiftungen konnten große Teile restauriert, die Forschung intensiviert werden. Die nächste Mission ist es nun, im kommenden Jahr die Anerkennung als Weltkulturerbe zu erreichen. Es wäre der erste Friedhof weltweit, der diese Auszeichnung bekäme.
ladino Neben dem Engagement um den Friedhof widmet sich Studemund-Halévy vor allem einer fast verlorenen Sprache, dem Ladino. Doch trotz des steigenden Interesses einer jüngeren Generation zeichnet er für die aktive Zukunft des Judenspanisch ein eher düsteres Bild. Es leben kaum noch Muttersprachler, vielerorts ist die Sprache einfach ins Spanische verwandelt worden, mit leichtem Einschlag oder Vokabular.
In Bulgarien gibt es immerhin noch etwa 150 Sprecher, im Balkan entwickelt sich mittlerweile auch ein größeres Interesse an diesem Forschungsfeld. Doch besonders den Zweitsprachlern fehlt der Zugang zur Tradition, sie können Hebräisch weder verstehen noch lesen. «Realistisch gebe ich der Sprache keine Chance», sagt Studemund-Halévy.
Das heißt aber noch lange nicht, dass er sich nicht um ihren Erhalt bemüht; unter anderem arbeitet er als Redakteur für die auf Judenspanisch erscheinende Zeitung «El Amaneser». Eigentlich hätte der Wissenschaftler noch einige Geschichten zu erzählen, zu den Schmetterlingen auf jenem Grabstein oder der unzüchtig bar-busigen Rachel auf einem anderen. Aber ein Student wartet auf ihn, und so verabschiedet Michael Studemund-Halévy sich eilig, immer in Bewegung bleibend.