Natürlich gibt es Momente, in denen mir alles zu viel wird. Aber ich lächle über sie hinweg, und dann fühle ich das große Glück: Vor sechs Monaten habe ich mein drittes Kind bekommen. Wieder ein Mädchen! Ich brachte es hier in München zur Welt, in einer Klinik, die ich recht gut kenne, weil ich dort schon einmal gearbeitet habe. Die Geburt verlief völlig unkompliziert.
Jetzt ist das Mädchen da, und wo ich bin, ist auch sie. Ich stille gern, zu Hause und unterwegs. In Israel ist das ganz normal. Da sitzen die Mütter im Café und stillen. In Deutschland muss man mehr darauf achten, ob sich jemand dadurch gestört fühlt. Aber ich habe ja immer mein rosa Tuch dabei. Was darunter passiert, sieht niemand.
Meine beiden größeren Töchter waren keine Sekunde eifersüchtig auf die Kleine. Das Baby ist ihre Puppe. Sie wechseln Windeln und packen mit an, wo sie können. Auch mein Mann. Und unser »E-Robot«. Den habe ich mir geleistet. Dieser kleine Roboter ist eine wunderbare Erfindung; er saugt und putzt – sogar feucht!
schule Die Kinder, mein Mann und ich, wir haben das große Glück, mitten in der City zu wohnen. Zwar geht es dort manchmal recht laut zu, es wird abgerissen und wieder aufgebaut, man hört von morgens bis abends Straßensänger mit den immer gleichen Liedern. Aber dafür haben wir kurze Wege und sparen Zeit. Nur ein paar Schritte, und wir sind in der Gemeinde am Jakobsplatz oder in der jüdischen Schule.
Eine sehr gute Schule! Ich weiß, wovon ich rede, denn ich kann vergleichen mit Russland, Israel und den USA. In der Schule am Jakobsplatz sind die Kinder bestens aufgehoben. Natürlich kann man immer etwas verbessern, und natürlich gibt es immer irgendetwas zu kritisieren. Man kann sich aber auch engagieren, und das tue ich, im Elternbeirat.
Mein Tag beginnt um sechs. Leicht fällt mir das nicht, so früh aufzustehen. Ich bin alles andere als ein Morgenmensch, aber eine Tasse Kaffee wirkt Wunder. Ich bereite das Frühstück und die Pausenbrote vor, wecke die Kinder, und irgendwann habe ich den Vormittag für mich, das Baby und meine Arbeit. Ich erledige, was ansteht; manchmal setze ich mich auch sofort an den Computer oder gehe ins Büro, ebenfalls ganz in meiner Nähe. Neben dem Muttersein brauche ich nämlich noch etwas. Und das ist meine Arbeit. Ich bin sehr rege, ziehe mir immer Neues an Land und habe eigentlich bei keinem Kind wirklich aufgehört zu arbeiten. Dass das alles hinhaut mit Kindern, Mann und Wohnung, macht mich glücklich.
Studiert habe ich in Israel, an der Uni Haifa, ein Fach, das in Deutschland am ehesten der medizinischen Ingenieurwissenschaft entspricht. 1994 hatte meine ganze Familie Alija gemacht. Ich war damals 16. Geboren wurde ich im russischen Orenburg am Fuße des Uralgebirges.
Bis heute bin ich der russischen Kultur sehr verbunden. Ich lese alles, was damit zu tun hat. Meine Mutter war Klavierlehrerin, deshalb habe ich eine enge Beziehung zur Musik, und wenn ich mich einmal richtig entspannen möchte, nehme ich ein warmes Bad und höre dazu Klassik – russische Komponisten.
Heimat Aber mein Herz ist israelisch. Ich glaube, das ist bei jedem Juden so, auch wenn er etwas anderes behauptet, auch wenn er noch nie in Israel war. Ich glaube, jeder Jude fühlt, dass Israel sein Zuhause ist. Und jeder, der einmal da gelebt hat und aus irgendeinem Grund gegangen ist, hat vor, dorthin zurückzukehren. Ich und meine Kinder auch. Israel ist ihre Heimat.
Ich erinnere mich noch daran, was für ein tolles Gefühl es war, als ich Russland verließ und nach Israel kam. Ich habe mich so frei gefühlt, das war unglaublich. Menschen, die in Israel geboren sind, können sich das gar nicht vorstellen. Ich habe gespürt, hier sind die meisten Juden, auf den Straßen, in den Geschäften, in der Schule, überall. Ich habe mich sofort zu Hause gefühlt. Ähnlich ist es mir als Kind und Jugendliche in Russland gegangen, wenn ich an Kursen und Sommercamps der Jewish Agency teilnahm. Es ist etwas ganz Besonderes, wenn man in antisemitischer Umgebung plötzlich nur jüdische Kinder und Lehrer um sich hat. Plötzlich bricht alle Kreativität aus dir heraus. Es gibt keine Angst mehr, weil für deine Sicherheit gesorgt ist. Es entsteht ein tiefes Gemeinschaftsgefühl. Das war wirklich unglaublich.
Ich war nicht die Einzige, die so gefühlt hat. Später als Madricha habe ich gesehen, wie kleinen Kindern die Tränen in den Augen standen. Ihre Kreativität ist explodiert. Jewish Agency verdanke ich wirklich viel, natürlich auch, dass ich schon Hebräisch konnte, als wir in Israel ankamen.
Im Jahr 2006 erhielt mein Mann ein Angebot aus Boston. Also verließen wir Israel und gingen in die USA. Dort habe ich erneut studiert und gearbeitet. Dann hieß es wieder umziehen. Das gesamte Labor meines Mannes ging nach München, und wir bekamen ein Angebot, das wir nicht ausschlagen konnten.
Leicht ist uns die Entscheidung nicht gefallen. Im Herbst 2007 kamen wir an, genau zum Oktoberfest, das war der richtige Empfang. Ich habe eine Stelle im »Klinikum rechts der Isar« bekommen, hatte nette Kollegen, habe mich gleich ums kulturelle Miteinander gekümmert, sie auch mal zum Schabbat oder anderen Feiertagen eingeladen, und meine Arbeit hatte Niveau.
Ich baute an einem Gerät für Herzuntersuchungen, mit dem die Harvard Medical School experimentierte. Ich war erfolgreich, aber mir hat irgendwann der Kontakt zu Menschen gefehlt. 90 Prozent meiner Arbeitszeit stand ich allein im Labor. Ich brauchte noch nicht einmal Deutsch zu lernen, weil alle Englisch sprachen.
Sprachen Als meine Tochter zur Schule kam, wurde mein Kontakt zur Gemeinde enger. Da sagte ich mir: Ich bin jetzt in Deutschland, und ich möchte Land, Leute und Kultur kennenlernen – das geht nicht ohne Sprache. Also fing ich an, Deutsch zu lernen. Jeder Umzug brachte mir eine neue Sprache.
Dass ich in München schließlich bei der Jewish Agency gelandet bin, macht mich einmal mehr glücklich, auch weil ich ihr ein wenig von dem zurückgeben kann, was sie mir in meiner Jugend gegeben hat. In den Räumlichkeiten der Europäischen Janusz Korczak Akademie, die Partnerin der Jewish Agency ist, kümmere ich mich um das sogenannte Nevatim-Programm – man kann es am besten mit Graswurzelprogramm übersetzen. Wir unterstützen soziale Initiativen, die von jungen Juden ausgehen und die jüdische Gemeinschaft in Deutschland stärken. Wir nehmen uns der Ideen an, stellen Geld und Räume zur Verfügung, führen ins Projektmanagement ein. Die Arbeit erfüllt mich sehr, auch weil ich sehe, was für engagierte und kreative junge Menschen wir haben.
Meine Kleine ist das Office-Baby. Die Leute im Büro sind Teil ihrer Familie. Ums Mittagessen für die zwei Großen muss ich mich nicht kümmern, die werden in der Schule gut versorgt. Und wenn sie am Nachmittag kommen, bin ich zu Hause. So viel Flexibilität wünsche ich jeder Frau. Die Kinder nehmen Klavier- und Geigenunterricht, wir gehen ins Konzert oder in die Oper. Auf einen Fernseher können wir verzichten. Und am Schabbat ist alles aus, kein Handy, kein Internet, kein Facebook. Danach wird alles wieder angeschaltet, und abends, wenn die Kinder im Bett sind, setze ich mich noch einmal an den Computer. Mal sehen, wie lange. Verlangt die Kleine nach mir, bekommt sie, was sie braucht.
Aufgezeichnet von Katrin Diehl