Stimmen

»Mein Herz ist in Tel Aviv«

Auch die Hafenstadt Aschdod liegt immer wieder unter Raketenbeschuss. Foto: Flash 90

Es piept. Kurz darauf wieder. »Ich habe mir die Red-Alert-App heruntergeladen«, erklärt Assaf. Jedes Mal, wenn eine Rakete Richtung Israel fliegt, gibt sein Smartphone ein Signal ab. »Ich will wissen, wo etwas passiert«, sagt er – und ist gleichzeitig aber »irgendwie sicher, dass es gutgehen wird«.

Der Frankfurter Israeli vertraut auf das Raketenabwehrsystem »Iron Dome« und auf die israelischen Streitkräfte. Am liebsten würde er im Moment in der Armee sein, um etwas verändern zu können, meint der 36-Jährige. »Aber ich habe zuletzt vor zehn Jahren in der Uniform gesteckt und wäre wahrscheinlich keine große Hilfe.«

Seine Schwester ist in Mitzpe Ramon stationiert, aber auch sie wähnt Assaf in Sicherheit: »Sie bildet Offiziere aus, da wird ihr nichts passieren.« Es sei zwar auf die Basis geschossen worden, aber »zum Glück ist die Hamas beim Treffen nicht so professionell«, macht sich Assaf Mut. Sein Handy bleibt angeschaltet – die ganze Nacht –, damit ihn seine Familie erreichen kann. »Ich wäre entspannter, wenn ich in der Nähe meiner Familie und meiner Freunde wäre«, betont er, doch der Alltag, die Arbeit, halte ihn in Frankfurt.

Medien Ihr »normales Leben weiterzuleben« versucht auch Osnat (Name von der Redaktion geändert). Bei ihren Söhnen hat sich in den vergangenen Wochen alles um die Fußball-Weltmeisterschaft gedreht. Osnat feiert und lacht mit ihnen, macht sich aber ständig Sorgen. »Ich bin dauernd bei WhatsApp oder am Telefon. Mein Herz ist in Israel«, gesteht sie. Ihre Eltern wohnen in Tel Aviv.

Osnat lacht über Sprüche wie: »So ein super Feuerwerk hatten wir nicht mal an Jom Haazmaut« oder »Wieder eine Bombenstimmung heute!« »Es ist bitter«, sagt Osnat, »aber meine Eltern kennen das schon. Man überlebt nur mit Witzen.« Woran sie sich indes nicht gewöhnen will, ist die »einseitige Berichterstattung« der Medien, die »Ungerechtigkeit gegenüber Israel«.

Über die seines Erachtens parteiische Presse in Deutschland regt sich auch Assaf »furchtbar auf«. Deshalb postet er jeden Artikel, den er für ausgewogen und fundiert hält, auf Facebook. Genauso wie Shlomo Livne, der das Internet nutzt, um Kontakt zu seiner Familie zu halten. In der vergangenen Woche skypte er just in dem Moment mit seiner Cousine, als deren Tochter plötzlich »Raketen kommen!« rief. Die Cousine verschwand vom Bildschirm, um ein paar Minuten später zu verkünden: »Kein Problem, die sind drei Kilometer entfernt explodiert.«

angriffe Seine Verwandten in Sderot und Omer seien zwar Beschuss gewohnt, übers Wochenende aber trotzdem ans Tote Meer gefahren, weil »die Kinder unter Schock stehen«. Am meisten Sorgen macht sich Livne um seinen Vater, der sich – übermannt von den Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg – derzeit weigert, sein Bett zu verlassen. »Er ist gut versorgt und umsorgt«, weiß Livne, »aber wenn es noch schlimmer wird, fliege ich hin.«

Den Saarbrückener Yoram Ehrlich trifft die Krise beruflich und privat. Er ist Inhaber von Ehrlich Reisen & Events: »Wenn in Israel etwas passiert, dauert es nur Sekunden, bis ich die ersten Kunden am Telefon habe«, berichtet er. Denn längst nicht alle sind so entspannt wie Osnat. Sie denkt nicht daran, ihre Flugtickets für August zu stornieren: »In Israel ist es einen Tag so, den anderen so. Ich mach’ mir da keine Gedanken.«

An einen raschen Frieden glaubt Osnat indes nicht. Und auch Yoram Ehrlich ist deprimiert: »Viele meiner israelischen Freunde stehen unter großem psychischen Druck, weil ihre Kinder gerade in der Armee Dienst leisten.« Nahe Verwandte an der Waffe zu wissen, zerrt auch an den Nerven einer Frankfurter Israelin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte: »Im Moment kann man nichts machen – außer zu weinen.«

reisen Shlomo Almagors Kinder sind traurig. Alle drei. Aber am traurigsten ist die Jüngste. Sie ist neun Jahre alt, in Hamburg sind Schulferien, und eigentlich hätte sie am nächsten Tag nach Israel fliegen sollen. Daraus wird nun nichts. »Okay«, habe sie gesagt, »wenn nicht morgen, dann halt ein paar Tage später«. »So sind Kinder. Sie meinen, alles ist zu regeln«, sagt der Vater der drei. Seit 1991 lebt der Israeli in der Bundesrepublik, ist beim israelischen Radiosender Kol Rega Chefredakteur für Deutschland und Mitteleuropa. Zudem leitet er in Hamburg ein Touristikbüro für Israelreisen.

»Alleine wäre ich ohne Wenn und Aber geflogen, aber mit drei Kindern ist das keine gute Idee. Es gibt momentan keine neuen Buchungen. Die Leute, die im Herbst fliegen wollen, warten ab, ob sich die Lage entspannt.« Shlomos Eltern, seine ganze Verwandtschaft lebt in Israel. Er telefoniert oft mit ihnen. Es herrsche fast so etwas wie Alltag. »Das ist ja nicht das erste Mal. Das ist unser Leben.« Mit dem Wort »Frieden« habe er ohnehin seine Probleme – »es gibt höchstens Phasen der Ruhe, und dann kommt die nächste Runde«.

Nachrichten Als Journalist beobachtet er die deutschen Medien sehr genau. Er erwarte ja nicht, dass die proisraelisch seien, aber wenigstens gerecht. »Tut sich etwas in Israel, vergisst man den Rest des Globus und sieht das, was man sehen will.« Doch wie in der Wirtschaft gelte in der Nachrichtenwelt das Gesetz von Angebot und Nachfrage. »Nachrichten müssen sich verkaufen.«

Eitan Levi ist Dozent an der Universität in München, seit acht Monaten außerdem »ein unglaublich glücklicher Vater«. Wenn er an Israel denkt, macht er sich Sorgen. Es müsse Auswirkungen auf die Menschen haben, in ständiger Angst vor Raketenangriffen zu leben. Eitan hofft auf eine schnelle Lösung, einen Waffenstillstand »baldmöglichst, denn auch in Gaza leiden Zivilisten unter den Luftattacken Israels«.

Eitans Eltern wohnen in Nes Ziona, wo gerade wieder »ein paar Raketen gefallen« seien, eine 500 Meter von seinem Elternhaus entfernt. »Gott sei Dank gibt es dieses Abwehrsystem, sonst wäre alles noch viel schlimmer«, sagt der Wissenschaftler, der seit 2000 in Deutschland lebt.

Augenhöhe Viel Vertrauen hat Eitan zu keiner der beiden Seiten. »Beide Völker haben schwache Führer.« Der Hass der Palästinenser auf Israel ersticke alle Bemühungen im Keim, andererseits habe er den Eindruck, dass die meisten Israelis ihrem Gegenüber nicht auf Augenhöhe begegneten. »Ob eine militärische Reaktion hilft? Ich bin da sehr skeptisch«, gesteht er und dass er davon überzeugt sei, dass die Hamas die Zivilisten in Gaza manipuliere, auf palästinensische Opfer setze, um die islamische Welt gegen Israel aufzubringen. Eitans kleine Tochter hat hellblonde Haare, heute trägt sie ein sonnengelbes T-Shirt und Strümpfe. »Sie bringt Licht in mein Leben«, sagt er.

Lior Uleviche »weiß gar nicht mehr, was Ruhe ist«. Das hat jedoch damit zu tun, dass zwei kleine Jungen noch nicht müde sind, obwohl Schlafenszeit ist. Lior hat heute schon mit seinen Eltern telefoniert. »Sind beide relaxed.« Zweimal sei in Ramat Gan Alarm gewesen, man gehe dann eben ins Treppenhaus, bleibe dort 20 Minuten, gehe dann zurück in die Wohnung. Panik herrsche überhaupt nicht. »Man hat großes Vertrauen in diese Abwehrkette.«

Golfkrieg Lior erinnert sich an den Golfkrieg 1991. »Da saß ich mit einer Gasmaske überm Gesicht in meinem Zimmer. Das war schlimmer.« 50 Meter von ihm entfernt ist damals eine Missile eingeschlagen. Die jetzige Situation überrascht ihn nicht. »Ich habe diesen Krieg erwartet. Nach den ständigen Vorfällen war das nur eine Frage der Zeit.«

Im Jugendzentrum der Frankfurter Gemeinde, wo er als Musiklehrer arbeitet, sehe man den Gesichtern an, dass die Welt nicht in Ordnung sei. »Es herrscht eine Traurigkeit, und die Kinder wissen nicht so richtig, was los ist.« Wütend mache ihn, wie viele Menschen in Deutschland gegen Israel auf die Straße gehen. Viele von ihnen hätten eigentlich keine Ahnung, glaubten aber einfach alles, was die Medien verkündeten. So ganz sicher fühlt sich Lior, der seit 2007 in Deutschland lebt, hier auch nicht. »Aber wohin soll man gehen?«

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