Unser Name ist auf der ganzen Welt einzigartig. Wann immer irgendwo ein Benario auftaucht, ist das bestimmt einer von uns. In der Familie gab es einen Mosche ben Löw, auf Hebräisch heißt das Ben Arie. Das »o« kam dann wohl durch Umschrift dazu. Heute jedenfalls gibt es nur noch vier Benarios in Deutschland: meine Mutter, meinen Bruder, meine Tochter und mich.
In der DDR war der Name vor allem wegen meiner Großcousine Olga Benario bekannt, die als jüdische Kommunistin 1942 in Bernburg ermordet wurde. Man hielt sie wie eine Säulenheilige hoch: Jugendklubs, Waisenhäuser, Schulen, Kindergärten waren nach ihr benannt. In der Schule hatte ich eher Ärger damit. Da hieß es oft: Wie kann man denn so eine Meinung haben – bei dem Namen?
Ich bin Stadtführer, und das seit fast 30 Jahren. Meine erste Stadtrundfahrt hatte ich am Jahrestag der Befreiung, dem 8. Mai 1985, da war ich 17. Die Truppe bestand aus 40 russischen Kindern, die zum Tag des Sieges nach Berlin gekommen waren.
Studium Nach dem Abitur bin ich auf die Uni gegangen – aber das lief nicht so richtig. Ich studierte hier ein bisschen, dort ein bisschen – mal Publizistik, Slawistik, Indogermanistik oder Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation. Theoretisch könnte ich fünf Bachelorabschlüsse haben, aber so weit kam es nie, denn es wurde mir irgendwann immer zu langweilig.
Von 1994 bis 1998 hatte ich eine Galerie, die hieß – wie könnte es anders sein – »Benario«. Sie war in der Auguststraße, dort zahlte man zu der Zeit so gut wie keine Miete. Die Idee war, etwas abseits des etablierten Kunstbetriebs zu machen. Ich praktizierte dort die sogenannte Petersburger Hängung, Kunst in vier Reihen bis unter die Decke. Was wurde ich dafür angefeindet in den 90er-Jahren! Zehn Jahre später war das der letzte Schrei.
Dann kam der Verkauf des Hauses, die Mieten stiegen, Galerien schossen wie Pilze aus dem Boden. Da habe ich aufgehört. So weit wie mein Urgroßvater Hugo Benario habe ich es also nicht gebracht. Er galt zu seiner Zeit als einer der größten privaten Sammler Berlins. Unglaubliche Schätze nannte er sein Eigen: von 2000 Jahre alten griechischen Torsi über Tilman Riemenschneider bis hin zu Ernst Ludwig Kirchner.
Nachdem mit der Galerie nichts mehr lief, eröffnete ich in Prenzlauer Berg ein ziemlich abgefahrenes Lokal, eine Mischung aus Eckkneipe und Cocktailbar: alte Reisebussitze vor rohen Ziegelwänden. Gespielt wurde ausschließlich Punk und Rock, keine Lounge-Musik. Abends um acht habe ich aufgemacht und kam manchmal erst morgens um sechs oder sieben nach Hause. Dann habe ich eine Stunde geschlafen, heiß gebadet und bin zur Stadtführung. Als die Gegend schicker wurde und viele Leute wegzogen, habe ich den Laden aufgegeben. Das war 2008.
Damenprogramme Seither mache ich nur noch Stadtführungen. Ich bin für Kongress- und Veranstaltungsagenturen unterwegs, Damen- und Rahmenprogramme. Mal ist es ein kulinarischer Rundgang am Abend, mal eine Acht-Stunden-Tour mit dem englischen Architektenbund oder einem österreichischen Musikverein. Mal arbeite ich sieben Tage am Stück vier bis fünf Stunden täglich, mal ist eine Woche gar nichts los.
Vorbereiten muss ich mich kaum noch. Inzwischen habe ich die Fakten drauf. Trotzdem ist es jedes Mal anders, letztendlich bestimmen die Teilnehmer, wie sich das Ganze gestaltet. Natürlich gibt es Standardtouren – Knöpfchen gedrückt, und ab geht die Post –, aber es sind eben immer wieder Leute dabei, die gezielt nachfragen und alles genau wissen wollen. Das gefällt mir, denn ich kommuniziere gern. Ganz selten erlebe ich einen Reinfall, zum Beispiel, wenn ich es mit völlig humorlosen Leuten zu tun habe. Aber schlechte Tage gibt es überall.
Inzwischen kristallisiert sich ein Spezialgebiet heraus: Führungen durchs jüdische Berlin – Scheunenviertel, Große Hamburger Straße, Rosenstraße, der ganze Innenstadtbereich. Ich kann das mit mehr Chuzpe machen als andere. Selbst in Sachsenhausen lässt sich eine Tour so gestalten, dass es nicht nur schlimm für die Leute ist. Ich streue einfach einen jüdischen Witz ein oder erzähle Anekdoten aus meiner Kindheit. Als Schüler musste ich jedes Jahr dorthin, so kann ich die Absurditäten des DDR-Alltags einbauen. Auf jeden Fall will ich weg von diesem Betroffenheitsding.
Durch den Beruf habe ich die Möglichkeit, ausgiebig zu lesen. Ich kann stundenlang im Netz surfen und alles an Information aufsaugen, was möglich ist. Davon lebt meine Arbeit. Ich muss wissen, was los ist, ob da jemand baut oder dort ein Loch zugeschüttet wird. Andere würden das Recherche nennen, ich sage dazu einfach lesen. Auf diese Weise akkumuliere ich Wissen.
Renaissancemensch Ich habe ein eigenartig funktionierendes Gehirn: Es merkt sich alles. Ich höre irgendetwas, packe es weg. Nach zehn Jahren kommt eine Information dazu, und ich denke, kuck mal, das passt da hin – und schon ergibt sich ein neuer Zusammenhang. So kommt eines zum anderen, und die einzelnen Teilchen fügen sich immer mehr zu einem großen Ganzen.
Inzwischen ist einiges zusammengekommen. Nach einer Führung sagte einmal eine Dame zu mir, ich sei wahrhaft ein Renaissancemensch. Sie hat recht: Es gibt nichts, was mich nicht interessiert. Ich lese alles, nehme alles wahr, informiere mich über alles. Eine Zeitung lese ich von vorn bis hinten. Auch wenn ich etwas nur überfliege, nehme ich es wahr, und es wird irgendwo gespeichert.
Berlin ist meine Stadt, ich lebe hier, bin hier geboren und groß geworden. Grün ist nicht so mein Ding. Trotzdem bin ich jetzt mit Frau und Kind aufs Land gezogen. Wir haben ein Haus gekauft, das ich selbst um- und ausbaue. Eine Menge Arbeit ist das, aber es macht auch viel Spaß, und am Ende ist es eben genau so, wie ich’s will. Unsere dreijährige Tochter besucht seit einigen Monaten den Kindergarten.
Mein Tag fängt früh an, zwischen sechs und sieben Uhr steht die junge Dame am Bett. Morgens bringe ich sie. Meine Frau ist Oberstufenlehrerin an einer Gesamtschule, nur ein paar Minuten vom Kindergarten entfernt. Wenn sie Zeit hat, holt sie die Kleine dann wieder ab. Nachmittags sind wir oft draußen, manchmal auf dem Spielplatz, und einmal in der Woche ist Kindersport. Oder wir gehen einkaufen – meine Tochter liebt das! Sie ist selig, wenn sie mit mir durch den Supermarkt eiern kann, Würstchen, Salate und Tomaten aussuchen. Abends essen wir dann alle zusammen, und um sieben muss Marta ins Bett.
Religion Für mich ist es nicht entscheidend, ob meine Tochter einen jüdischen Kindergarten oder eine jüdische Schule besucht. Sie wird die Familiengeschichte kennenlernen, mit allem, was dazugehört. Und natürlich werde ich ihr irgendwann auch Israel zeigen. Wenn sie der Meinung ist, dass ihr die Religion etwas bringt, dann kann sie das gerne machen. Ich finde, ein Kind muss alt genug sein, um erfassen zu können, worum es geht. Oder zumindest sollte es in der Lage sein, sich verbal zu verteidigen.
Ich war acht oder neun Jahre alt, als mir meine Eltern erzählten, dass ich jüdisch bin. Ein Problem habe ich mit denen, die ihre Religion vor sich hertragen. Ich selbst bin der klassische Agnostiker. Wenn etwas nicht bewiesen ist, dann glaube ich es nicht. Es gibt Wissen oder Denken. Wenn man nicht weiß, dann denkt man, aber man glaubt nicht. Entweder man gelangt durch Nachdenken zu der Erkenntnis, dass man es nicht weiß, oder man weiß es einfach. Das hat mir mein Großvater gepredigt. Und so lebe ich.
Aufgezeichnet von Bettina Piper