Normalerweise ist Jom Haazmaut, der Tag der Unabhängigkeit und damit der Geburtstag des Staates Israel, auch in der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern ein rauschendes Fest. Gefeiert wird die Ausrufung des Staates durch David Ben Gurion im Jahr 1948 und damit die erstmalige Etablierung jüdischer Souveränität in der Moderne, die Gründung einer Heimstatt und eines Zufluchtsortes für Juden weltweit.
Dass diese Souveränität stets verteidigt werden muss, zeigte sich schon im Unabhängigkeitskrieg, der in der Nacht nach Ben Gurions Proklamation von fünf arabischen Nachbarstaaten Israels losgetreten wurde. Den Feierlichkeiten geht deshalb immer der Jom Hasikaron voraus, der Tag, an dem der gefallenen israelischen Soldaten gedacht wird.
Seit dem 7. Oktober 2023 aber ist das Bewusstsein für diese Gewissheit erschüttert. Ein halbes Jahr später befindet sich Israel noch immer im Krieg, und etliche israelische Geiseln sind weiter in Gefangenschaft. Der feierliche Empfang im Jüdischen Gemeindezentrum in München fiel deshalb zurückhaltender aus als sonst. Auf Tanzmusik wurde verzichtet. Am Klavier sorgte Shai Barak zusammen mit Itai Weissmann am Saxofon für ruhige Jazzklänge und israelische Musik, ebenso unterhielten die Sängerin Tali Azulay und der Kantor Chaim Stern die vielen Hundert Anwesenden im voll besetzten Hubert-Burda-Saal.
Freude über die Unabhängigkeit und Schmerz über das Verlorene
Auch IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch begann ihre Begrüßung mit einem Verweis auf den eben zu Ende gegangenen Gedenktag Jom Hasikaron. Sie erinnerte daran, dass »die Freude über die Unabhängigkeit in einem jüdischen Staat nicht zu haben ist ohne den Schmerz über das Verlorene«. Dieser Schmerz sei jeden Tag zu spüren: Es stehe nun so deutlich wie nie vor Augen, warum es Israel als einen jüdischen Ort auf dieser Welt brauche.
Knobloch dankte schließlich den Gastrednern Melody Sucharewicz, einer zentralen Kontaktperson zu Familienangehörigen der Geiseln, und Arye Sharuz Shalicar, zuvor langjähriger Sprecher der israelischen Armee besonders im deutschsprachigen Raum, für ihren unermüdlichen Einsatz als Stimmen für Israel. Die IKG-Präsidentin würdigte beide als »Verbindungsleute der Wahrheit«. Direkt im Anschluss intonierten die Kinder der Sinai-Grundschule gemeinsam mit Kantor Stern die Hatikwa, Israels Nationalhymne, in die das Publikum mit einstimmte.
In ihrer Keynote-Ansprache beklagte Melody Sucharewicz die flüchtige Natur der Solidarität mit Israel nach dem 7. Oktober. Seit sich das Land verteidige und im Krieg gegen die Hamas versuche, die Geiseln zu befreien und dem islamistischen Terror ein Ende zu bereiten, sinke die Solidarität merklich: »Während uns allen das Atmen noch schwer fiel, weil das Trauma noch frisch war, lernten wir, wie schmerzhaft das Schweigen sein kann.«
Nun aber sei das Schweigen dem Geschrei aus anti-israelischen Hassparolen an den Universitäten gewichen. Es sei deshalb klarer denn je, so Sucharewicz, dass Israel nicht nur für sich selbst kämpfe: »Israel kämpft für die gesamte freie Welt.« Von den Zuhörern erhielt Sucharewicz für diese Worte lang anhaltenden Applaus.
Die Gemeinde setzte sich mit einer Spendenaktion für Angehörige der Geiseln in Israel ein.
Auch Arye Sharuz Shalicar ging auf die Verbindung des diesjährigen Feiertags mit der unvermeidlichen Trauer ein. »Der Schmerz des 7. Oktober sitzt in uns heute wahrscheinlich so tief wie kein anderer Schmerz seit dem Holocaust.« Zu diesem Schmerz komme die große Enttäuschung hinzu, dass so viele Menschen die Situation Israels und der jüdischen Gemeinschaft weltweit nicht verstehen wollten, während der antisemitische Hass täglich zu erleben sei.
»Für unsere Existenz kämpfen wir allein«
Aus Shalicars Sicht stehe der jüdische Staat am Ende allein da: »Für unsere Existenz kämpfen wir allein.« Zugleich mahnte er auch zur kritischen Selbstreflexion. Es gelte nun, sich ehrlich den Spiegel vorzuhalten und den 7. Oktober innerhalb Israels aufzuarbeiten. Seine eindringliche Ansprache beendete Shalicar mit kleinen Botschaften der Hoffnung: So seien gerade auch angesichts der von Melody Sucharewicz benannten flüchtigen Solidarität die wahren Freunde Israels deutlich sichtbar geworden. Und schließlich beweise die Einsatzbereitschaft der israelischen Reservisten sowie auch das Engagement der jüdischen Gemeinden in aller Welt eine starke Zusammengehörigkeit.
Auch die IKG setzte sich an diesem Abend mit einer Spendenaktion im Rahmen des Projekts »Coming Home Soon« für Angehörige der Geiseln in Israel ein. IKG-Vizepräsident Yehoshua Chmiel stellte gemeinsam mit Melody Sucharewicz die Ausstellung der Künstlerin Inbar Hasson vor, durch die solidarische Botschaften an Familienmitglieder der Entführten und Ermordeten gelangen können. Die zugehörigen 220 Bücher waren erst im April auf Initiative der Kultusgemeinde in München gezeigt worden.
So galt der diesjährige Jom Haazmaut mehr denn je dem Ausdruck der Solidarität und Verbundenheit mit Israel – und war damit gerade in schwerer Zeit weit mehr als nur eine weitere Geburtstagsfeier.