Die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen öffnet ihre Türen gerne für Besucher, empfängt interessierte Zuschauer zum Gottesdienst, bietet Führungen an und lädt zu Veranstaltungen ein. Aber dass die Gemeindevorsitzende beinahe eine Stunde vor Konzertbeginn schon vor der Tür steht, scheint ungewöhnlich. Judith Neuwald-Tasbach schaut etwas ratlos zu Hans-Joachim Siebel vom Kulturreferat der Stadt. Gemeinsam organisieren sie die Klezmerwelten, ein Festival an verschiedenen Spielorten in der Stadt, eben auch in der Gemeinde. Dass das Festival gut ankommt, ist anhand der Wartenden nicht zu übersehen.
Ein bisschen, so die Entscheidung der beiden Verantwortlichen, müssen sich die Gäste noch gedulden. Schließlich sitzt die Band des Abends, »The Heart and the Wellspring« aus Israel, noch im Saal zusammen und bespricht den Auftritt. Wenn die Musiker in drei Stunden von der Bühne treten, werden noch zwei Konzerte folgen: »Dobranotch« am 14. November und Daniel Kahn mit Sasha Lurje am 28. November. Für die Shows gibt es nur noch wenige Tickets; einige Veranstaltungen im Oktober und November waren ausverkauft, die anderen mindestens »sehr gut besucht«, sagt Siebel.
Finanzierung Zum fünften Mal finden die Klezmerwelten in Gelsenkirchen nun statt. Das ist mit Blick auf das Anfangsjahr allerdings keine große Zahl: 2003 wurden sie von der Stadt zum ersten Mal organisiert, dann 2004, danach lange nicht mehr. »Es wurde aus finanziellen Gründen nicht fortgesetzt«, erzählt Hans-Joachim Siebel. Erst 2012 gab es einen neuen Anlauf, und der war durchaus erfolgreich. »Es lief so toll, dass wir 2013 weitergemacht haben, da war die Jüdische Gemeinde auch schon Mitveranstalter.« Um die regelmäßige Durchführung der Reihe zu sichern, wurde beschlossen, die Klezmerwelten im Zweijahresrhythmus zu veranstalten. »Es wäre sonst ein zu großer finanzieller und organisatorischer Kraftakt«, sagt Siebel.
Während des gerade laufenden Events wird deutlich, dass die Veranstalter den richtigen Rhythmus und vor allem die richtige musikalische Zusammenstellung gewählt haben. »Klezmer ist etwas anderes als das, was sich viele Menschen darunter vorstellen. Es geht nicht nur um die Schtetlromantik, es ist nicht nur Anatevka«, betont Siebel.
Dieser Anspruch soll sich im Programm niederschlagen. »Hier werden viele Facetten des Klezmer gezeigt. Dass das der richtige Ansatz ist, zeigen auch die Besucherzahlen«, erklärt Gemeindevorsitzende Judith Neuwald-Tasbach. »Und wir haben hier nicht nur Gelsenkirchener.« Gut die Hälfte der Besucher, schätzt Siebel, kommt aus den umliegenden Städten. Auch über das Ruhrgebiet hinaus haben die Klezmerwelten Freunde gefunden, wie die Kartenreservierungen zeigen.
Unterstützung Das freut Neuwald-Tasbach, doch noch wichtiger als der überregionale Ruf sei ihr, sich auch durch die Klezmerwelten als fester Bestandteil der Gelsenkirchener Gesellschaft zu etablieren. »Die Menschen sollen uns als angenehmen und offenen Ort wahrnehmen – nicht nur für jüdische Religion, sondern auch für Kultur. Damit wollen wir uns bedanken für die große materielle und immaterielle Unterstützung, die wir beim Bau des Gemeindezentrums erfahren haben«, sagt sie. »Jetzt möchten wir etwas zurückgeben.«
Doch das ist für die Gemeinde gar nicht so einfach. »Wir haben keinen Kulturetat, und die finanzielle Situation wird sich wegen der Kosten für den Neubau wohl auf Jahre nicht ändern«, erklärt sie. »Dafür hat die Gemeinde viele gute Ideen«, lobt Siebel. »Ganz so viel Geld hat die Stadt Gelsenkirchen zwar auch nicht, aber immerhin einen Kulturetat.« Dass die Stadt damit auch jüdische Kultur fördert, trage zur Verständigung zwischen den Kulturen bei, ist Neuwald-Tasbach überzeugt. »Es ist schön zu sehen, dass auch andere die jüdische Kultur unterstützen.«
Neben Konzerten von zum Beispiel »Semer Label Reloaded«, dem »London Klezmer Quartett« oder dem »Merlin & Polina Shepherd Duo« mit Hunderten Zuschauern freuten sich die Organisatoren auch über einen kleineren Kreis von Gästen: Rund 30 Teilnehmer konnten im Oktober an Workshops teilnehmen, die Musiker aus aller Welt leiteten. Sieben Dozenten stellten eine Woche lang im Gemeindezentrum Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen die Welt des Klezmer und der jiddischen Musik vor. »In jedem Raum war hier Musik – Gitarre, Geige, Gesang, es wurde getanzt. Ich wurde eine Woche lang bei der Arbeit musikalisch unterhalten«, erzählt Neuwald-Tasbach lachend.
Dobranotsch Nun gibt es dafür noch zwei Gelegenheiten. Im Stadtbauraum, einem der vier Spielorte der Klezmerwelten, treten am 14. November »Dobranotch« auf und wollen mit osteuropäischer Tanzmusik Lebenslust verbreiten. Die acht Musiker touren seit 15 Jahren und fühlen sich auf den Bühnen der großen Weltmusikfestivals ebenso zu Hause wie bei Hochzeiten auf dem Lande.
Zum Abschluss der Klezmerwelten spielen in der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen Daniel Kahn und Sasha Lurje. Kahn war bereits 2013 in Gelsenkirchen zu Gast und hat mit der Band »The Painted Bird« bewiesen, dass es kein großer Schritt von Klezmer zu Punk und Folk ist. Am 28. November wird er mit der Sängerin Sasha Lurje »Strange Love Songs«, Klassiker von Tom Waits oder Brecht, auf Jiddisch vorstellen. Dabei übersetzen sie Texte russischer Balladen ins Englische und verweben Liebeskummer, Wollust, Mord und Weltschmerz mit viel Humor. Die Schlange vor dem Gemeindezentrum dürfte dann wieder recht lang sein.