Im Jahr 2021 zelebrierte Deutschland mit unzähligen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen die 1700-jährige Geschichte jüdischen Lebens. Vertreter von Bund, Ländern, Gemeinden, kulturellen Institutionen bewältigten mit bußfertiger Routine die »furchtbaren Verbrechen der Nazis«, dankten den hiesigen Juden, dass sie in das »Land der Täter« zurückgekehrt sind, und lobten sich am Ende dafür, diesen Aufbauprozess unterstützt und so wieder ein vitales deutsch-jüdisches Miteinander nach Kräften gefördert zu haben. Am Ende gelobten sie voller Überzeugung, die Renaissance jüdischen Daseins weiterhin zu fördern.
Wer sich die Mühe gab, bei einer dieser zentralen Zeremonien die Mienen der Teilnehmer zu beobachten, sah über das Antlitz Josef Schusters gelegentlich den Anflug von Skepsis huschen. Darin spiegelte sich eine Mischung aus leiser Hoffnung, aber auch Zweifel. Leider hat das Geschehen seither Schuster recht gegeben. Bereits im Folgejahr gingen anlässlich der 15. documenta antisemitische Klischees mit politischem Opportunismus und Gleichgültigkeit eine altbekannte Symbiose ein.
Das veranlasste Schuster, unmissverständlich zu reagieren. Er forderte die Verantwortlichen aus Politik und Kultur auf, die Ausstellungsstücke, die judenfeindliche Propaganda verbreiteten, zu entfernen und dafür zu sorgen, dass sich Derartiges nicht wiederhole. Als sich die Generaldirektorin mit Phrasen über die Solidarität mit dem Globalen Süden herauszureden versuchte, forderte Schuster ihren Rücktritt.
Der Terrorangriff der Hamas und die Ereignisse in Deutschland und Europa
Dies war ein Vorspiel nur zu dem, was sich seit vergangenem Herbst in Deutschland und Europa, von anderen Gegenden zu schweigen, ereignete. Der Terrorangriff der Hamas, mit menschenverachtendem Stolz gefilmt und verbreitet, wurde umgehend von Islamisten, Antisemiten, Linksradikalen und ihren Mitläufern auch auf Deutschlands Straßen mit süßer Zustimmung gefeiert, das Ende von Israels Existenz gefordert, erbarmungslos Jagd auf Juden und Israelis gemacht, Synagogen denunziatorisch markiert.
Zwei Jahre nach seiner Geburt kehrten die Schusters nach Deutschland zurück.
An Hochschulen, Orten der freien Lehre, wurden Juden niedergeschrien und misshandelt. Wieder forderte der Präsident des Zentralrats klar die Anwendung der Gesetze und die Einlösung der inflationär verkündeten Solidarität nicht mit den »jüdischen Mitbürgern«, sondern mit den betroffenen Menschen. Ihnen, wie allen anderen, dürfe die Würde nicht vorenthalten werden. Sein Wort wurde wahrgenommen – auch wenn er als Einzelner nicht in der Lage ist, eine weltweite antisemitische Offensive aufzuhalten. Dazu braucht es die Unterstützung aller Humanisten und Demokraten.
Ich kenne Josef Schuster seit gut einem halben Jahrhundert. Jossi, wie alle ihn damals nannten, war ein »Prinzling«. Sein Vater David stand der Würzburger jüdischen Gemeinde vor. Der Franke und dessen Vater waren nach Hitlers »Machtergreifung« in den 30er-Jahren von der SA in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald deportiert worden. Das Hotel der Familie war »arisiert«, das heißt geraubt worden. Familie Schuster wurde zur Flucht nach Palästina gezwungen. Die Eltern von Anita Schuster, geborene Grünpeter, wurden später von den Nazis ermordet.
1954 kam Josef Schuster in Haifa zur Welt
1954 kam Josef Schuster in Haifa zur Welt, zwei Jahre darauf kehrte die Familie nach Deutschland zurück. Das galt seinerzeit in Israel als »Abstieg« ins Land der Nazis. David Schuster dagegen empfand sein Tun als naheliegend. Ihn zog es wie viele Jeckes, deutsche Juden, zurück in ihre Heimat, deren Sprache und Kultur die ihre waren.
In Würzburg wurden die Schusters von den rund 200 Juden mit offenen Armen empfangen. Kurze Zeit darauf wählten sie den energischen David zum Gemeindevorsitzenden. Er war der Mann, der der jüdischen Gemeinschaft wieder Ziele gab und ihr Gehör verschaffte. »Ich bin mit der jüdischen Gemeinde aufgewachsen«, bekennt Josef Schuster. »Ihre Angelegenheiten wurden bei uns am Küchentisch besprochen und teilweise geregelt.«
Nach dem Gymnasium engagierte sich Jossi im Jüdischen Jugendbund, ich dagegen im Bundesverband jüdischer Studenten. Den Jugendbund empfanden wir als zu gemäßigt. Wir hatten Zeit, uns ausgiebig über 1000 Dinge zu streiten. Jossi fiel mir auf, weil er im Gegensatz zu den meisten nie persönlich wurde. Ihn interessierte stets die Sache. So konnte man sich mit ihm leicht einigen.
Jossi war Pragmatiker. Sein Schwerpunkt lag eindeutig auf dem Studium. Während die meisten von uns zeitgemäß Politik, Soziologie oder gar Philosophie belegten, studierte Jossi, pragmatisch wie gewöhnlich, Humanmedizin. Er wollte den Menschen helfen, statt zu schwatzen. Nach dem Staatsexamen folgten die Doktorarbeit, die Ausbildung zum Facharzt für Innere Medizin, Heirat, die Gründung einer Familie und der Aufbau einer eigenen Praxis.
Führung der Würzburger jüdischen Gemeinde
Hinzu kam die Führung der Würzburger jüdischen Gemeinde. Denn 1998 folgte Josef nach kurzer Unterbrechung seinem Vater, der fast 40 Jahre die Geschicke der jüdischen Gemeinschaft geleitet hatte, in dieses Ehrenamt. Was er dabei zu tun hatte, wusste der Arzt. Hauptaufgabe war nach der Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Integration der jüdischen Kontingentflüchtlinge aus dem Osten.
Diese Menschen bewahrten die überalterte hebräische Gemeinschaft vor dem Aussterben. Aber sie benötigten zunächst Hilfe beim Erlernen der deutschen Sprache, der Einordnung und dem Auffrischen der Kenntnisse als Juden. Die alte Synagoge wurde zu klein. Eine neue musste finanziert und erbaut werden. Das alles kostete Zeit und Mühe. Schuster, der neben seiner Praxis alle zwei Wochen eine Nacht als Rettungsarzt absolvierte, nahm sie sich. Nie sah man ihn nervös, ungeduldig. Er wurde Arzt, um Menschen beizustehen. In der Medizin und in der Gemeinde.
Er wirkt stets sachorientiert, allzeit hilfsbereit.
Das fand Anerkennung weit über Würzburg hinaus. 2002 wurde Schuster zum Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern gewählt. Ein Dutzend Jahre später kürte der Zentralrat der Juden in Deutschland Josef Schuster einmütig zu seinem Präsidenten. Das ist der verantwortungsvollste Posten – nicht nur des deutschen Judentums. Denn als empfindliche Minderheit mit einer leidvollen Vergangenheit wirken die Israeliten wie ein Seismograf der deutschen Gesellschaft. Sie bekommen als Erste das Beben des Landes und seiner Bürger, also Fehlentwicklungen, zu spüren.
»Ich bin zu meiner Position gekommen wie die Jungfrau zum Kind«
»Ich bin zu meiner Position gekommen wie die Jungfrau zum Kind«, bekannte Schuster. Er hatte sich nicht um die Nachfolge solch engagierter Persönlichkeiten wie Heinz Galinski, Ignatz Bubis oder Charlotte Knobloch beworben. Doch der Erfüllung einer ehrenamtlichen Pflicht wollte er sich nicht entziehen. Seine erstrangige Aufgabe sei es, »jüdisches Leben in Deutschland fortzuführen – unabhängig von der religiösen Haltung der Einzelnen«.
Unaufgeregt und pragmatisch führt er sein Amt und scheut nie davor zurück, unbequeme Wahrheiten zu sagen. Etwa, dass man potenzielle Gewalttäter und Juden- und Demokratiefeinde aus Deutschland fernhalten müsse. Heute ist das Mehrheitsmeinung. Doch als Schuster es 2015 äußerte, entschied Kanzlerin Merkel, Deutschland solle seine Grenzen unkontrolliert öffnen – denn: »Wir schaffen das!« Ein Irrtum, den man heute zu spüren bekommt.
Josef Schuster wirkt stets sachorientiert, allzeit hilfsbereit. Doch unmissverständlich. Dabei versteht er es, die Menschen mitzunehmen. Als ich ihn in die Synagoge unserer Heimatstadt Ichenhausen einlud, um über jüdisches Leben zu sprechen, nahm Schuster sogleich die Anwesenden für sich ein, als er bemerkte: »Dieser Ort versteht es, mustergültig an seine jüdische Geschichte zu erinnern.«
Seit ich ihn kenne, ist mein Zeitgenosse und Freund sich und uns treu geblieben. Masal tov und Happy Birthday, Jossi!
Rafael Seligmann (76) ist Historiker und Publizist. Im April erscheint sein neues Buch: »Brandstifter und ihre Mitläufer. Putin – Trump – Netanyahu« (Herder).