Auf dem Weg von Jerusalem zum Toten Meer. Lange vor der Abzweigung nach Jericho in der Ferne die gewaltige Barriere der Berge Moabs. Dann geht es abwärts, nichts als abwärts, dem tiefsten Punkt der Erdoberfläche zu. Es ist die Landschaft der Bibel, des Alten Testaments. Trockene Hügel, Ziegenherden, schwarze und braune Tiere, ein Esel mit verbundenem Hinterlauf, braune Beduinenzelte, am Straßenrand und an den Hängen bläuliche Blütenfelder.
Jetzt wird der Blick auf die Jordansenke frei, dann auf das Nordufer des salzigen Sees und seine geschrumpfte Wasserfläche, vorbei an Ein Gedi, der biblischen Oase, immer weiter nach Süden, immer weiter. Und dann liegt sie vor mir, die Bergzitadelle, in ihrer unbeschreiblichen Majestät, herrischen Isolation und Inselhaftigkeit.
Natur Schattenhaft abgehoben gegen die Sonne über dem Kamm der Steinwüste Judäas und von ihr in Äonen abgespalten wie von einem Meister der Fortifikation, so wuchtet, so steilt es empor, ein Denkmal der Natur für die Tragödie des Menschen – Dort, am Westufer des Toten Meers, in der Abgeschiedenheit der Wüste Judäas, hat sich eines der großen Dramen der Antike zugetragen, hatten sich vor 2000 Jahren während des Jüdischen Krieges gegen die Römer eine Schar Männer, Frauen und Kinder zurückgezogen, willens, lieber zu sterben, als sich versklaven zu lassen.
Aber schon ein einziger Blick von der 434 Meter hohen Felsenfestung hinunter bestätigte ihnen, dass sie todgeweiht waren. Umzingelt von 15.000 Soldaten der legendären 10. Römischen Legion unter dem Kommando des Gouverneurs der Provinz Neujudäa, Flavius Silva, bedroht von einer monströsen Rampe bis vor die Zinnen der Mauer hoch droben, hatten die Belagerten der römischen Kriegsmaschine nichts mehr entgegenzusetzen.
Doch als die Legionäre im Morgengrauen siegestrunken die Festung stürmten, stellte sich ihnen keine Hand entgegen, vernahmen sie keinen Laut – 960 Männer, Frauen und Kinder hatten sich selbst entleibt. Aus dieser von dem jüdischen Historiker Josephus Flavius überlieferten Tragödie hat der 1948 errichtete Judenstaat den Umkehrschluss gezogen: »Masada wird nie wieder fallen!«
Motto Es ist gleichzeitig auch das Motto meiner Dankesrede. Ich nehme die Gelegenheit wahr, meinem Herzen Luft zu machen. Was mich geradezu adrenalisiert, ist die grenzenlos einseitige Schuldzuweisung an Israel, was die Gründe und den Verlauf des Nahostkonfliktes betrifft, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Israel von großen Teilen der veröffentlichten und der öffentlichen Meinung in Deutschland auf die Anklagebank gesetzt wird. Es ist beunruhigend, Tag für Tag wieder erleben zu müssen, wie empfindungslos sich weite Kreise über die Berechtigung israelischer Gegenwehr hinwegsetzen. Wollen ungefährdete Deutsche tatsächlich und allen Ernstes die Israelis besserwisserisch belehren, wie deren Staat und Regierung ihre Bürgerinnen und Bürger vor den Mordanschläge der Hamas, des Dschihad und der Hisbollah zu schützen hätten?
Im letzten Jahrzehnt sind durch arabische Anschläge Tausende Israelis umgekommen oder verletzt worden. Rechnete man diese Zahlen hoch auf die Demografie Deutschlands mit seinen 80 Millionen Einwohnern, würde das bedeuten, dass zwischen Flensburg und München, Köln und Berlin Tausende und aber Tausende getötet und verletzt worden wären. Es bedarf keiner großen Fantasie, sich die hiesigen Folgen vorzustellen. Muss denn tatsächlich hier erst eine Bombe platzen, bevor erkannt wird, dass Israel ein Land ist, in dem jedermann jederzeit überall getötet oder verletzt werden kann? Nein, Israel steht nicht unter kritischem Naturschutz, und wenn ich konfrontiert werde mit der Frage, die Unteilbarkeit der Humanitas auch am Beispiel Israel zu erproben, so würde ich mich immer für meine Kritikfreiheit entscheiden.
Und da hat es, außer der verfehlten Siedlungspolitik, so manches gegeben, was zu rügen war und ist. Aber ich weigere mich notorisch, die Maßnahmen israelischer Regierungen zum präventiven Schutz der Bevölkerung auf die gleiche Stufe zu stellen wie die hinterhältigen Anschläge arabischer Terroristen. Wer will mir einreden, dass es hier nicht um einen »Kampf der Kulturen« geht? Und das Israels Grundproblem darin besteht, dass es sich in diesem Kampf auf Leben und Tod seiner demokratischen Struktur und seiner humanen Grundsätze wegen in einer keinesweg günstigen Ausgangsposition befindet?
Preis Es war der von mir hochgeschätzte Leon de Winter, der in dem offiziellen Organ der Juden Hollands die Sache beim Namen genannt hat. Er schrieb: »Natürlich ist die israelische Armee in der Lage, die Verstecke der Terroristen in Wohnvierteln aufzuspüren und zu zerstören. Jedoch ist der Preis an Menschenleben so hoch, dass es kein Zusammenleben in Freiheit und mit freier Presse geben könnte. Das ist das eigentliche Dilemma: Israel könnte, aber weil es Israel ist, kann es diese Mittel und Möglichkeiten zur Terrorbekämpfung nicht anwenden und einsetzen. Manchmal erscheinen die Vergeltungsaktionen als zu große, jedoch sind sie in Wahrheit minutiös im Verhältnis zu den Möglichkeiten, die die Armee hat.« So Leon de Winter.
In meine Fassung gebracht: Es wäre für Israel waffentechnisch ein leichtes gewesen, mit der Intifada fertig zu werden. Es hätte ihr nur so begegnen müssen, wie jede arabische Regierung jeder jüdischen Intifada begegnet wäre: nämlich sie bedenkenlos noch am Abend des Tages, an dem sie ausgebrochen war, in ihrem eigenen Blut zu ersticken. Israel aber kann das nicht – und das besagt beredter als alles andere, wer sich da im Nahostkonflikt gegenübersteht.
Nein, nicht der kleine Judenstaat wird es sein, von dem aus die großen Schatten über das 21. Jahrhundert fallen werden. Fallen werden sie aus einer Hemisphäre von 22 arabischen Ländern, die 50 mal mehr Menschen als Israel haben, 800 mal mehr Bodenfläche und – die größten Anpassungsschwierigkeiten beim Anschluss an die Moderne, ohne dabei je die Ursachen für das eigene Versagen bei sich selbst zu suchen. Den notorischen Anklägern in so manchen Redaktionsstuben und Chefetagen der deutschen Print- und TV-Medien, die ich hier anspreche und angreife, rate ich, zu begreifen, dass Israel auch ihre Freiheit verteidigt.
Phönix Und doch ist das Bild, das ich von der Bundesrepublik bis hierher entworfen habe, nur ihre eine Seite. Die andere ist eine Erfolgsgeschichte sondergleichen, ein wahrer Phönix aus der Asche, der große Magnet für die Wiedervereinigung, das bleibende Wunder einer deutschen Revolution ohne Blutvergießen und Nationalismus. Keine der später aufgetretenen Schwierigkeiten und Hindernisse nach der Wiedervereinigung kann diesem historischen Mirakel auch nur das Geringste von seiner Leuchtkraft nehmen. Ich kann und will das nicht unterschlagen, sondern laut bekennen.
Und doch, wie lang, wie lang fallen die Schatten der Vergangenheit immer noch ... Da mordet sich quasi spazierengehenderweise eine jugendliche Nazigang ein Dutzend Jahre quer durch Deutschland, ohne dass sie und ihr Netzwerk auffällig werden. Als die blutige Strecke und ihre Verzweigungen dann endlich entdeckt werden, fallt die Bundesrepublik aus allen Himmeln einer Blindheit bis an die Grenzen der Komplizenschaft.
Wie sollte ich beruhigt sein, wenn fast drei Menschenalter nach dem Untergang Hitlerdeutschlands plötzlich der Todfeind von gestern auftaucht in Gestalt einer neuen Generation, die nicht als Fremdenfeinde und Antisemiten geboren wurden, wohl aber im Laufe ihres jungen Lebens dazu geworden sind? Und wovor müssen sich Menschen meiner Biografie mehr fürchten – vor dem deutschen Rechtsextremismus mit Tentakeln bis in die Mitte der Gesellschaft hinein oder vor den Defiziten der Staats- und Sicherheitsorgane im Kampf gegen ihn? Ich weiß, mit wem wir es hier zu tun haben, und was wäre, wenn die zeitgenössische Variante des Nationalsozialismus nicht Opposition spielte, sondern an der Macht wäre – da habe ich sie kennengelernt.
Pogromnacht Ich war zehn, als die Schüler des Hamburger Johanneums im April 1933 am ersten Schultag in »Arier« und »Nichtarier« eingeteilt wurden, lautloser Gongschlag eines neuen Zeitalters. Zwölf, als mein gleichaltriger und bis dahin bester Freund Reinemann mich im Sommer 1935 anblaffte: »Ralle, mit dir spiel ich nicht mehr, du bist Jude!«. 15, als am 10. November 1938, dem Tag nach der Reichspogromnacht, in der Innenstadt die Glassplitter der eingeschlagenen Fensterscheiben jüdischer Geschäfte unter meinen Sohlen knirschten.
16 beim Verhör im »Stadthaus«, Sitz der Gestapoleitstelle Hamburg, eingesperrt in einen hölzernen Käfig, in dem ich weder sitzen, liegen noch stehen konnte, angeklagt »staatsfeindlicher Äußerungen«, die, so die Verhörer, »das Miststück deiner jiddischen Mamme dir eingegeben hat.« Als mir, der »Rassenschande« bezichtigt, im August 1944 auf der Dependance dieser Behörde am Johannisbollwerk die Seele aus dem Leib geprügelt wurde, war ich 21. Und 22, als wir am 4. Mai 1945 durch die 8. Britische Armee aus einem rattenverseuchten Verlies kurz vor dem Hungertod befreit wurden.
Die Aufzählung ist lückenhaft, ein Partikel des Familienleids nur. Und doch wohl ausführlich genug, um zu begreifen, dass es danach nicht leicht war, auf deutschem Boden geblieben zu sein. Dieses Deutschland soll, es muss wissen, dass in ihm immer noch Menschen leben, die nicht vergessen können und nicht vergessen wollen. Es soll und muss wissen, dass immer noch Menschen da sind, die beim unfreiwilligen Einatmen der Auspuffschwaden im Stau des motorisierten Wohlstandsblechs an die Gaskammern von Auschwitz, die Gaswagen von Chelmno, die Krematorien von Treblinka, Sobibor und Belsec denken.
Todesschwadronen Menschen, die beim Anblick jeder Wunde, jedes Tropfens Blut an die Mordgrube von Babi Yar am Rande von Kiew denken, an Tschechiens verbranntes Lidice und Frankreichs ausgemordetes Oradour-sur-Giane. Menschen, die zusammenzucken, wenn sie das ebenso begrifflos wie inflationär benutzte Wort »Einsatz« vernehmen, nachdem es doch die mobilen Todesschwadronen der vier »Einsatzgruppen A, B, C und D« gegeben hat, die nach ihren eigenen Aufzeichnungen hinter der deutschen Ostfront Hunderttausende umgebracht haben.
Ich gebrauche diese Vokabel der »Lingua tertii imperii«, der Sprache des Dritten Reiches (Victor Klemperer!), nie mehr – es sei denn bei einer Demonstration wie dieser. Von solchen Menschen spreche ich hier, weil ich einer von ihnen bin, und weil ich mich tief alarmiert fühle. Da droht ein Bollwerk angetastet zu werden, hinter dem ich all die Jahrzehnte lebe, hier in Deutschland, erst dem geteilten, dann dem wiedervereinigten – die demokratische Republik, der demokratische Verfassungsstaat! Sie sind mein Elixier, die Luft zum Atmen, die einzige Gesellschaftsform, in der ich mich sicher fühlen kann, etwas Kostbares, auf das sich mein ganzes Dasein stützt.
Deshalb: Ob Links oder Rechts, Groß oder Klein, Christ oder Muslim, Atheist oder Agnostiker – wer die Demokratie attackiert, sie angeht, beschädigen oder gar aufheben will, der kriegt es mit mir zu tun, dem gehe ich an die Kehle, der hat mich am Hals! Mit dieser Versicherung erneuere ich den Kriegszustand, in dem ich mich 80 von meinen 90 Jahren mit dem Nationalsozialismus und seinen Anhängern befinde. Das ist ein Gefechtsposten, auf dem man nichts dringlicher braucht als Bundesgenossen.
Herzen Wonach ich denn auch mein ganzes Leben lang Ausschau gehalten habe. Und dabei nun an die DIG, die Deutsch-Israelische Gesellschaft Aachen, geraten bin. Ihren »Ehrenpreis 2013« nehme ich mit Dank an, zur Fortsetzung der eigenen Arbeit ermutigt dadurch, dass hier Menschen am Werk sind, denen Israel am Herzen liegt, sich also etwas tut, das uns gemeinsam ist.
»Es wird kein Frieden sein in der Region, bis Israels Nachbarn aufhören, es zu bedrohen.« In diesem einen Satz, ausgesprochen von der Präsidentin des 11. und 12. Bundestags, Rita Süßmuth, während eines Besuches in Jerusalem vor 23 Jahren, liegt der Schlüssel zur Lösung des Nahostkonflikts. Er fasst dessen Ursache und Charakter in die Nussschale weniger Worte und trifft, indem er über die Palästinenserfrage weit hinausgeht, den Kern der Auseinandersetzung. Universale Kulisse ist die Tragödie eines Volkes, das es schwer hat, auf dieser Erde heimisch zu werden. Es ist wie ein Bann, wie ein Fluch, der auch vor dem neuen Staat auf altem Boden nicht haltgemacht hat, sondern im Gegenteil Juden dort am stärksten gefährdet, wo sie sich am sichersten wähnten, nachdem die Jahrtausende alte Verheißung »Nächstes Jahr in Jerusalem!« wahr geworden ist.
Politik Noch einmal Ahasver? Noch einmal der Golem? Noch einmal Schoa? Mit diesem hochgefährdeten Land fühle ich mich unlösbar verbunden, eine Ankettung, die unabhängig ist von den Maßnahmen, der Politik und den Resolutionen abwählbarer Regierungen. Die Liebe zu ihm ist die Hülle meiner Kritik an ihm, ihm gehört all meine Bewunderung und so manches noch, was mir im Halse steckenbleibt, wenn ich es sagen möchte und nicht kann, weil es mir die Sprache verschlägt.
Ich bin überzeugt von der Kraft dieses Landes, ich baue auf seine Phantasie, seine Kreativität, seine gewaltige Vitalität und seine Überlebensfähigkeit. Daneben aber hockt in mir, unverbannbar, mit bleibender Unruhe und unausrottbarer Sorge, jene jüdische Angst, die mich, fürchte ich, bis an mein Ende begleiten wird und einem meiner Bücher den Titel Israel, um Himmels Willen, Israel verliehen hat. Da ist es gut, liebe Freundinnen und Freunde, sich unter Menschen zu wissen, die die gleichen Hoffnungen und die gleichen Ängste haben, wie hier, in dieser Stunde, mit Dank und dem Gelöbnis: »Masada wird nie wieder fallen!«
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