Mark Aizikovitch ist tot. Der 1946 in der Ukraine geborene Sänger kam 1990 mit seiner Familie nach Berlin und wurde schnell fester Bestandteil der jüdischen Kulturszene. Der Bariton sang Klezmer und war regelmäßig zu Gast auf jüdischen Kulturtagen im ganzen Land.
Im Jahr 2009 hat er unserer Autorin Brigitte Jähnigen erzählt, was er über jiddische Lieder, jüdische Kämpfer und seine Familie denkt. Schon damals war seine schwere Krankheit ein Thema. Lesen Sie hier noch einmal den Text im Wortlaut.
Meine Hoffnung sind die Kinder. Man muss ihnen beibringen, dass der Mensch, unabhängig von seiner Herkunft, ein Mensch ist. Viele Kinder kennen gar keine Juden. Sie haben ihren Antisemitismus mit der Muttermilch aufgesogen, das ist der schlimmste. Oder sie bekommen ihn auf dem Hof draußen beim Spielen. Das kann man beeinflussen. Deshalb konzentriere ich mich mit meiner Musik auf die Kinder. »Ich kann Jüdisch«, rufen sie begeistert beim Workshop. Erst haben sie jiddische Wörter gehört, mit deutschen verglichen und gemerkt: Das klingt ja ähnlich. Jetzt kannten sie ein jiddisches Wort, das haben sie laut gelesen, bald waren es schon mehrere Wörter, die haben sie sich gemerkt. Und zum Schluss haben sie Lieder aus Israel gesungen: deutsche und arabische Kinder. Es war zum Weinen schön. Die Kinder sind begeistert von dieser Musik.
Ich denke in solchen Momenten: Erwachsene Antisemiten waren auch einmal Kinder. Was ist mit ihnen geschehen, dass sie so hasserfüllt wurden? 1996 war ich in Thüringen, in Altenburg, zum Konzert. Ein Lehrer von einem christlichen Gymnasisum sprach mich an, ob er mich seinen Schülern zeigen könnte. »Bin ich ein Bär, den man präsentieren muss?«, habe ich ihn gefragt. Es ist noch immer schwierig in Deutschland, mit dem Erbe von sechs Millionen ermordeten Juden umzugehen. Doch Massenmord an Juden gab es nicht nur in Deutschland. Auch Stalin hatte vor, die Juden zu vernichten. Seine eigenen Leute hat er verfolgt und ermordet, Synagogen hat er nicht zugelassen und keine Rabbiner, die jüdische Kultur sollte verschwinden. Was ist ein Volk ohne seine Kultur? Ich habe Sorge, dass seine und der Nazis Samen heute Früchte tragen. Es beschäftigen sich zu wenige Menschen mit der jüdischen Kultur, mit der jüdischen Musik in Europa.
seele Ich bin Schauspieler, Liedermacher, Sänger und Arrangeur, ich kenne die Musikszene. Es gibt Hunderte Klesmer-Gruppen. Sie spielen und singen die Lieder aus Osteuropa, die einst mit Tam, mit Geschmack, geschrieben wurden. Jetzt klingen sie fad. Viele dieser Musiker hören es nicht, sie spüren es nicht. Man kann Musik nicht aus Büchern lernen. Der Sinn der Sache steckt nicht in den Buchstaben, sondern dahinter. Man muss ihn fühlen mit der Haut. Wenn der richtige Geschmack fehlt, verlieren wir das Wichtigste, was wir haben, die Kultur unserer Vorfahren, unsere Seele.
Wie kann sich das bessern? Der Zentralrat fördert die jüdische Kultur sehr gut. Aber es könnte mehr sein, vor allem in den Gemeinden außerhalb Berlins. Denn es gibt keine jüdische Dramaturgie, keine jüdische Gestaltung.
Seit zwei Jahren habe ich Krebs. Krebs ist ein Urteil. Er behindert meine Arbeit. Aber ich kämpfe, ich versuche, weiterzusingen, zu spielen, ich vertone eigene Texte mit meinen Musikern, ich arrangiere, ich schreibe Gedichte mit trauriger Note. Ab und zu gebe ich ein Konzert. Vor der ersten Operation habe ich gedacht, was kann ich noch machen? Da hatte ich die Idee: Ich schreibe etwas für meinen Sohn.
Ich war wie ein Automat. Einen Block habe ich vollgeschrieben, damit er weiß, wer waren seine Großeltern, wie haben die Vorfahren in der Ukraine gelebt? Die Oma sprach nur Jiddisch, wie kam sie damit im Alltag in der Sowjetunion zurecht? Über meine musikalischen Wurzeln habe ich geschrieben, meine Lieder sind in Russisch, Jiddisch und Ukrainisch verfasst. Von dort habe ich meine Lebenssäfte. Ich habe die Erinnerungen auf Russisch geschrieben. Als mir das bewusst wurde, habe ich gelacht. Mein Sohn kann kein Russisch. Er ist in Deutschland aufgewachsen. Das ist das Fatale bei den Zuwanderern. Vor 19 Jahren bin ich aus der Ukraine über London nach Deutschland gekommen. Ein russischer Freund aus Berlin hatte mir gesagt: »Komm nach Berlin, hier kannst du bleiben.« Ich war überrascht. Denn von meinem Vater – er war ein Kriegsveteran – hatte ich gehört: »Die Deutschen werden gegenüber den Juden niemals vernünftig.«
popstar In der Sowjetunion war ich ein bekannter Popstar. Von einer Einwanderungswelle haben wir dort nichts gewusst. Als wir als Kontingentflüchtlinge kamen – meine Familie reiste nach – war es eine Katastrophe. Wir dachten, wir kämen in eine Demokratie. Stattdessen lieferten sich Menschen in Berlin blutige Kämpfe. Wir verstanden ihre Sprache nicht und wussten nicht, worum sie so erbittert stritten. Wie konnte so etwas passieren in einem demokratischen Land? Wir haben uns gefragt, ob unsere Entscheidung richtig war.
Weil ich das Leben in Deutschland noch nicht verstanden hatte, nannte ich meine erste CD »Der Fremde«. Heute habe ich einen deutschen Pass, deutsche und jüdische Freunde, gute arabische Bekannte. Wer bin ich mit meinem deutschen Pass, mit meiner Jüdischkeit, mit den ukrainischen Wurzeln? Ein Mensch. Mensch ist Mensch. Es gibt nur gut und schlecht, nur intelligent und dumm. Tu etwas mit anderen Menschen gemeinsam, dann siehst du, wie er ist, der andere. Alle Menschen haben etwas Gemeinsames: Gott, das Buch, das Leben. Das muss man schätzen.
Ich habe noch viel vor. Ich habe noch viel Kraft, auch wenn ich nicht weiß, ob ich alles schaffen werde. Vier Jahre war ich in der Repräsentanz der Berliner Jüdischen Gemeinde. Aber es gibt keine Ruhe in den Gemeinden. Die Missverständnisse zwischen den Alteingesessenen und den Zuwanderern halten an. Vielleicht dauert es noch eine Generation, vielleicht auch zwei.
Die Neuen kamen mit sozialistischen Ideen, sie haben nicht verstanden, dass es hier anders ist. Sie trafen meist auf Schoaüberlebende und deren Familien. In Deutschland sieht man die Juden als Opfer, in der Sowjetunion waren sie Kämpfer. Das ist für beide Seiten schwer zu verstehen. Und es ist einfach zu sagen: Wir verstehen uns nicht.
projekt Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt: Im Ersten Weltkrieg saßen in den Gräben auf beiden Seiten jüdische Kämpfer. Sie haben die gleichen Lieder gesungen. Davon habe ich eine Sammlung und wollte eine CD produzieren. Aber mir fehlt das Geld. In der Synagoge Gebetbücher in russischer Sprache zu verteilen, reicht nicht für das Verstehen. Wir verlieren viele Beter. Mit Kunst und Kultur könnte es besser gehen.
Ich habe ein neues Projekt. Gemeinsam mit dem Publizisten Boris Sandler produziere ich eine CD mit dem Titel »Kinder seyn wir gew?«. Sandlers Texte, von mir vertont, sind Blicke zurück auf das Kinderleben von Erwachsenen. Den Geschmack von Eiscreme im Mund, schauen wir auf unsere Kindheitstage und erinnern uns. Der Duft der Erinnerung steckt im Gehirn. Meine Hoffnung sind die Kinder. Auch wir waren einmal diese Kinder.