Gut, dass Jürgen Gideon Richter mit wenig Schlaf auskommt. In den nächsten beiden Jahren wird er nämlich noch mehr zu tun haben als bisher. Denn der hauptamtliche Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Frankfurt und ehrenamtlich sehr aktive 55-Jährige ist jetzt auch Vorsitzender der Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Hessen (LFWH). Das allein ist aber nicht das Besondere an dieser Personalie. Bemerkenswert ist vielmehr, dass erstmals seit 60 Jahren eine jüdische Organisation den Liga-Vorsitzenden stellt.
Das Amt tritt Richter, wie vermutet werden könnte, nicht als Vertreter der AWO an, sondern für den Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen (LVJGH). Der LVJGH ist einer von sechs Spitzenverbänden, die gemeinsam für eine soziale Politik eintreten und diese auch von den politisch Verantwortlichen einfordern.
Kontakte Für Richter bedeutet die neue Funktion eine Menge an Mehrarbeit: Dazu gehört es, »Gesetzesvorlagen und andere Schriftstücke zu lesen, um auf dem Laufenden zu bleiben«, aber auch sehr viele repräsentative Termine wahrzunehmen und den Kontakt zu Ministerien zu intensivieren. Die offiziellen Termine werden Richter eine gute Gelegenheit bieten, sich als jüdischen Liga-Vorsitzenden vorzustellen. Der LFWH ist keine »unwichtige Organisation« und die in ihr vereinten Verbände ein »Wirtschaftsfaktor«, schließlich beschäftigen sie zusammen 150.000 hauptamtliche und rund 50.000 ehrenamtliche Mitarbeiter.
Seine Funktion als Liga-Vorsitzender könne also durchaus Signalwirkung haben, mutmaßt der neue Amtsinhaber. Auf jüdischer Seite möchte er es als ein Zeichen dafür verstanden wissen, »dass wir mitten in dieser Gesellschaft sind und uns nicht verdrängen lassen«. Es sei auch ein Hinweis dafür, dass jüdische Organisationen »ein ganz normaler« Teil der Wohlfahrtspflege mit bestimmten Aufgaben seien.
»Das ist ein wichtiges Signal«, meint Richter. Eine mögliche Wirkung in die Mehrheitsgesellschaft sieht er darin, »dass wir Juden nicht nur als die Traditionswahrer der Schoa wahrgenommen werden, sondern als die, die ganz bewusst auch Sozialpolitik in diesem Land mitgestalten; dass wir nicht Leute für Sonntagsreden sind, sondern in der alltäglichen sozialen Arbeit eine Rolle spielen.«
Personaldecke Der Liga-Vorsitz wechselt turnusmäßig nach zwei Jahren; alle zwölf Jahre wäre also der jüdische Landesverband an der Reihe. Bis dato wurde der Posten aber nur von AWO, Deutsches Rotes Kreuz, Caritas, Diakonisches Werk und der Paritätische besetzt. Der LVJGH ist nach Richters Worten »wegen personeller Engpässe auf eigenen Wunsch übersprungen worden«.
Diesmal eben nicht, denn Moritz Neumann als LVJGH-Vorsitzender muss in Richter die richtige Besetzung gesehen haben. »Er hat mich gefragt und nach Bedenkzeit und Rücksprache mit meinem Arbeitgeber habe ich zugesagt«, berichtet der neue Liga-Vorsitzende.
Seit 1991 arbeitet Richter bei der Arbeiterwohlfahrt, seit 1993 führt er »als am längsten in dieser Funktion beschäftigter Mitarbeiter« die Geschäfte des Frankfurter Kreisverbandes. Seine Findungsphase dauerte allerdings »etwas länger«, wie der 55-Jährige schmunzelnd sagt. Mal studierte er in Berlin, mal in Kassel, dann auch in Gießen und Mainz; er versuchte sich in Jura und Lehramt und machte schließlich Abschlüsse als Sozialpädagoge und Diplom-Gerontologe.
Der gebürtige Berliner, der mit seiner Frau in Wiesbaden lebt, engagiert sich seit über zwei Jahrzehnten in der dortigen jüdischen Gemeinde und kümmert sich als Vorstandsmitglied um den Bereich »Soziales«. Zudem ist er Vorsitzender des Landesausschusses.
freizeit Und wie verbringt ein Mensch, der neben der hauptberuflichen Arbeit auch viele ehrenamtliche Aufgaben hat, die wenige Freizeit? »Mit Lesen und kulturellen Veranstaltungen«. Für Letzteres reise er immer wieder nach Berlin, zu seiner Geburtsstadt fühlt er sich besonders hingezogen. »Eigentlich bin ich ein typischer Großstadtmensch, liebe die pulsierende Atmosphäre«, erzählt Richter.
Wenn ihm nach Kunst, Kultur und Anregendem ist, dann macht er sich auf den Weg in die Hauptstadt, dort hat das Ehepaar Richter nämlich auch eine Wohnung. Eine weitere Leidenschaft sind Kriminalgeschichten, insbesondere die, die im Berlin der Weimarer Zeit angesiedelt sind. Er recherchiert selbst alte Fälle, bettet sie in die Zeitgeschichte ein und hält darüber auch mal Vorträge in AWO-Einrichtungen. Das Interesse an Kriminalfällen hat er wohl vom Vater, der Polizeibeamter war. Richters Sohn tritt wiederum in die Fußstapfen seines Vaters. Denn der 27-Jährige studiert ebenfalls Soziale Arbeit.
Spaß »Man muss brennen für die Arbeit, die man macht. Wenn man nicht wirklich Spaß daran hat, wenn es nur ums Geldverdienen geht, dann kann man nie erfolgreich sein mit dem, was einem wichtig ist«, beschreibt Richter seine Philosophie. Er sieht es als ein Privileg an, dass er einen Arbeitgeber hat, mit dessen Tradition und Ansatz er sich identifizieren kann, und dass er einen Beruf hat, der ihm Spaß macht und in dem er seinen Neigungen nachgehen kann.
So muss wohl die Idee, einen Krimi zu schreiben, noch bis zur Pensionierung aufgeschoben werden. Bis dahin will sich Richter, der »nicht raucht und trinkt und wenig Schlaf braucht, leider aber auch keinen Sport treibt«, für all die Dinge engagieren, die ihm wichtig sind.